Tolle Veranstaltungen stehen an …
Figurenentwicklung mit Herz
»Die Praxis der Liebe ist ein gemeinsamer Marathonlauf auf einem Drahtseil.«
– Tobias Hürter, Philosoph
Wenn ein Systemsprenger einen weißen Ritter liebt oder: Der Autor als Flugsimulator
Man kann jemanden lieben, den es gar nicht gibt. Vielleicht ist Ihnen das sogar schon einmal passiert. War es Harry Potters Brille, die Ihnen das Herz brach? Oder die Teeparty von Alice aus dem Wunderland? Oder haben Sie mit Dan Browns Professor Robert Langdon mitgefiebert? – Na also. Falls nicht, müssen Sie es mir einfach glauben. Bei mir war es übrigens Raymond Chandlers Philip Marlowe.
Die Liebe des Lesers oder auch des Autors zu literarischen Figuren ist eine Art Magie. Es funktioniert, weil wir uns diese Figuren vorstellen können. Unser Gehirn ergänzt aufgrund von Erfahrungswerten das, was wir nicht wissen. Autoren haben noch dazu die Möglichkeit, selbst zum »Schöpfer« zu werden. Bei Dan Brown unterstellt man sogar, er habe sich selbst als literarische Figur neu erschaffen. Die Figur „Robert Langdon“ sei sein fiktives Alter Ego oder „der Mann, der er wünscht sein zu können“ („the man he wishes he could be“). Es gibt Anzeichen dafür, beispielsweise haben Brown und seine Hauptfigur am selben Tag Geburtstag.
Würde Robert Langdon einen zweiten Blick übrig haben für die Hauptfigur meiner Berlin-Krimis, die Escortdame Liberty Vale? – Ich denke schon.
Denn wenn Liberty Vale den Raum betritt, kann man es fühlen. Sie ist groß und blond und laut. Aber sie ist mehr als das. Sie ist eine »Systemsprengerin«, d.h. sie passt in kein System. Sie transzendiert Gesellschaftsschichten, Berufe, Tabus und sogar die Schwerkraft. Sie setzt ihre eigenen Grenzen mit einer Leichtigkeit, die ihr zur Ehre gereicht. Wie jeder gute Agent Provocateur wandelt sie gerne an Abgründen, auf Schwellen und an Schmerzgrenzen.
Ihr angenehmes Äußeres wird durch einen nüchternen gesunden Menschenverstand ergänzt. Sie sagt, was ich schon immer mal gerne sagen wollte. Sie ist direkt, aber nicht unanständig. Sie ist meinungsstark. Sie kann all ihre Grenzüberschreitungen begründen.
Die gute Nachricht: Wenn Liberty auftritt und der Welt Bescheid sagt, kann ich mich entspannt zurücklehnen, ruhig sein und staunen.
Die schlechte Nachricht: Liberty Vale existiert überhaupt nicht.
Ich habe sie mir nur ausgedacht.
Insofern bin ich nicht Liberty Vale, aber Liberty Vale ist ich.
Das ist nicht halb so verwirrend, wie es sich anhört. Ich glaube, jeder Mensch orientiert sich an einem Rollenbild. Manch einer will vielleicht eine gute Hausfrau sein, gerade als Mann, oder eine Feuerwehrfrau oder ein gemäßigt sozialdemokratischer Koalabär oder gar Bundeskanzler (ja, das geht auch für Männer), oder man will einfach werden wie Mama.
Menschen entwickeln sich selbst auf ein Rollenbild oder Vorbild hin. Nichts anderes ist Figurenentwicklung für Hauptfiguren, nur dass man es nicht unbedingt leben muss.
Man kann sein literarisches Ich natürlich aus agieren (siehe Papa Hemingway – oder war das Recherche?). Man kann seinen Figurenentwurf aber auch in einem Notizbuch festhalten, das Buch zuklappen und mit seinem eigenen Leben weitermachen. Sehr entspannend und deshalb vor allem dann als therapeutisches Hobby empfohlen, wenn Sie nicht gemäßigt sozialdemokratischer Koalabär, sondern psychopathischer Massenmörder werden möchten.
Aber zurück zur Liebe.
Menschen interessieren sich in erster Linie für andere Menschen. Warum? Weil uns die Evolution mit Empathie ausgestattet hat.
Liberty Vale, meine »Systemsprengerin«, ist keine komische Nebenfigur. Eine komische Nebenfigur braucht keinen Realitätsbezug. Man kann kreativ frei drehen. Aber Liberty braucht eine Erdung, damit die Geschichten, die ich über sie erzählen will, nicht als humoreske Anekdoten verpuffen.
Wir brauchen ein Genre, das ihre Abenteuer rechtfertigt.
Wir brauchen zu Libertys Yang ein Yin, um eine komplette, ineinander verschlungene Welt fiktiv zu simulieren. Yang bedeutet im Chinesischen »sonnige Anhöhe«. Yin bedeutet »schattiger, schattiger Ort«.
Wenn man den dunklen, eleganten Martin Sanders nur vom Weitem sieht, bekommt man schon ein schlechtes Gewissen. Er hat seinen eigenen Satz Regeln, wie jeder gute Privatdetektiv. Er ist konsequent und anständig. Er ist der personifizierte Hoffnungsschimmer, wenn es um Recht und Gerechtigkeit geht – ein »nobel moral enforcer« (Raymond Chandler), ein weißer Ritter. Dass ihn dies einsam macht, damit hat er sich abgefunden. Er hat im Leben vergeblich versucht, Kompromisse zu machen. Das hat weh getan. Kompromisse macht Sanders nicht mehr. In dieser Resignation liegt jede Menge Romantik. Und Ruhe. Ruhe, die eine Systemsprengerin fasziniert.
Ich bin nicht Martin Sanders, aber Martin Sanders ist ich.
So viel zur Konstruktion.
Und jetzt zurück zur Liebe.
Die Liebe – literarisch oder real – hat es heutezutage nicht leicht. Sie nervt ein bisschen. In Zeiten allgemeiner Desillusionierung ist sie kaum noch zu unterscheiden von Besessenheit, Sex, Freundschaft (ggf. mit Extras), Gewalt, Party. Es ist nicht mehr klar, was von der Liebe zu erwarten ist. Der Trend geht zur Unverbindlichkeit. Die Kurzfristbeziehung erscheint den meisten noch am ehesten realistisch, weil erreichbar. Man kennt das aus dem Projektmanagement: Milestone Kinder erreicht, der Nächste, bitte.
Warum sollte es auch anders sein? Die Menschen können doch problemlos alleine klarkommen. Alleine hat man weniger Ärger und mehr Zeit für seine wirklichen Interessen. Was man trotzdem hat, ist das Gefühl, dass etwas fehlt. Man nennt es Sehnsucht. Schon 416 vor Christus schrieb Platon in seinem Dialog »Das Gastmahl«, Sehnsucht sei die Suche nach unserer anderen Hälfte, der verlorenen Vollständigkeit. Zum Schluss des Dialogs liegen alle besoffen unterm Tisch. Wir sind also gewarnt. Wir wissen seit langem Bescheid.
Und manchmal funktionieren langjährig beständige Beziehungen. Im echten Leben und in der Literatur. Das ist ein Grund, warum mich die »Outlander«-Romane von Diana Gabaldon faszinieren. Hier geht es nicht um »Romance«, also um die Geschichte einer Brautwerbung. Es geht darum, wie es ist, eine lange Beziehung erfolgreich zu führen. Ohne, dass Alltagstrott und Routine unerträglich überwiegen. Nicht selten werden die Romane von Diana Gabaldon von Männern gelesen und – so sagt sie – als Lebenshilferatgeber in ihren Beziehungen benutzt.
Was ist es also, das Liebe im Leben wie im Buch so unwiderstehlich macht?
Auf physiologischer Ebene führt Liebe zu einem Ausstoß des Belohnungshormons Dopamin und einem höheren Aktivierungsgrad des Gehirns. Das Gehirn verändert sich. Das Leben erscheint einem sinnvoll, klar und voller Geborgenheit. Aus zwei Ichs wird ein Wir, und das ist ein neuer Ort, der schon wieder viel mit Fiktion zutun hat. Ein höchst subjektiver Ort, den es nur in der Innenperspektive gibt.
Ist es also tatsächlich so dramatisch? In einer Zeit, in der Personalisierung das neue Schwarz ist, haben wir da wirklich nur die Wahl zwischen wahrer Liebe und eigener Identität? Muss man da etwas aufgeben?
Kurz gesagt: ja. Man muss aufhören zu zweifeln. Es braucht einen Entschluss.
Wenn der Parship-Algorhythmus einem einen Vorschlag macht, gilt es, sich zu entschließen und hartnäckig an der Beziehung festzuhalten. Sturheit lohnt sich. Vergessen Sie unentschlossene Liebe, das ist bloß Verliebtheit.
Liebe lässt sich mit einfachen Mitteln gezielt erzeugen oder begünstigen, anders gesagt: konstruieren. Der amerikanische Psychologe Arthur Aron hat hierzu erfolgreiche Experimente gemacht (http://www.36-fragen.com/). Wenn Menschen sich erst kennen, brauchen sie keinen Grund mehr, um sich zu verlieben – die Liebe entwickelt eigendynamisch ihre eigenen Gründe. Man kann sich quasi damit anstecken.
– Und dann? Dem Rat des über 60 Jahre verheirateten Prinz Philip, Prinzgemahl der britischen Königin, folgen: »Ständig Kompromisse machen.«
Liebe ist also Arbeit. Genauso, wie man die Konstruktion eines Romans planen kann, kann man auch die eigene Lebensgeschichte planen. Das menschliche Gehirn funktioniert wie ein Flugsimulator: Visualisierung als mächtiges Erschaffungswerkzeug.
Und wenn aus Fiktion Liebe wird oder aus Liebe Fiktion, dann entsteht etwas Neues. Ein innerer, emotional authentisch Ort. Man will das nicht erklären. Aber jeder profitiert auf seine individuelle Weise. Lesen und Liebe, beides verlängert das Leben.
Meine beiden Hauptfiguren Liberty Vale und Martin Sanders lassen die Turmstraße in Berlin-Moabit in einem Licht erscheinen, in dem dieser Problemkiez normalerweise nicht gesehen wird. Für beide Figuren ist das ihre Heimat, ein Ort, an dem sie sich nicht erklären müssen. Natürlich liegt dieser Ort nicht nur in den Herzen zweier fiktiver Charaktere, sondern auch noch zwischen zwei Buchdeckeln, sozusagen eine doppelte Fiktionsebene von uns entfernt. Trotzdem kann der Leser die Innenperspektive einnehmen und diesen neuen Ort, der nur durch die Liebe zwischen Sanders und Libby entstanden ist, emotional erreichen.
Wenn das nicht jedes System sprengt.
Ach so, und wenn ihr jetzt neugierig geworden seid, dann könnt ihr gewinnen. Und zwar eine E-Book Ausgabe der Ladies Night. Das ist eine Short Story Sammlung, in der Sanders und Libby euch u.a. beibringen werden, wie man am besten Erdbeeren isst …
Gewinnspiel Ladies Night
Veranstalter: Bettina Kerwien und Carola Wolff
Teilnahme: einfach diesen Blogbeitrag kommentieren
Ablauf: aus allen Kommentaren werden pro Blog jeweils fünf Gewinner aus dem Lostopf gezogen (es gibt insgesamt 10 Ebooks zu gewinnen = 5 pro Blog)
Dauer: Kommentieren könnt ihr ab sofort (14.2.2018) bis zum 16.2.2018 (endet um Mitternacht)
Achtung: bitte nicht doppelt kommentieren/in den Lostopf hüpfen, sondern nur auf einem Blog
Gewinnerbekanntgabe: Unter allen Kommentatoren werden wir am 17.2. im Laufe des Vormittages jeweils auf unserem Blog die Gewinner mit verbundenen Augen ziehen. Sobald die Gewinner feststehen, benachrichtigen wir sie, bitten um die Mailadresse und sende das E-Book zu. Bitte teilt uns mit, ob ihr Emobi oder Epub haben möchtet. Die Adressen löschen wir anschließend selbstverständlich wieder.
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Viel Glück und happy Valentine!
Interview Berliner Morgenpost 14.11.17
#BUCHPASSION: Raymond Chandler und die Socken des Vergessens
Raymond Thorton Chandlers (* 23. Juli 1888 in Chicago, Illinois; † 26. März 1959 in La Jolla, Kalifornien), Pionier der amerikanischen hardboiled novel
»I am a very spoiled writer who doesn’t believe anymore. I have a beautiful home, a beautiful wife, and a beautiful sales record. But all I want is to get drunk and forget.«
Das Vergessen ist besser als sein Ruf. Man braucht es, um sich von ungeliebten oder bedrohlichen Eindrücken zu befreien. Um Platz zu schaffen für die Gegenwart. Trotzdem hat das Vergessen keinen leichten Stand. Wir trainieren unser Gedächtnis, aber das Vergessen üben wir nicht. Man kann es, oder man kann es nicht. Oft sind es gerade die unvergesslichen Momente, die wir besonders gerne festhalten, im Foto, zum Beispiel – weil wir befürchten, das Unvergessliche zu vergessen. Das geschieht auch. Man erinnert sich nicht mehr an die Situation, man erinnert sich an das Foto. Aber was, wenn man nicht vergessen kann? Raymond Thorton Chandler konnte Vieles. Vergessen konnte er nicht.
Ich war noch niemals in Los Angeles. Aber ich erinnere mich an einen Morgen Mitte Oktober, einen Tag ohne Sonne und mit klarer Sicht auf die Vorberge. Ich erinnere mich, weil Raymond Chandler das so will. Es ist der Tag, an dem seine Hauptfigur Privatdetektiv Philip Marlow um elf Uhr morgens das Haus der Familie Sternwood betritt – der stilbildende Anfang von Chandlers erstem Marlowe-Roman »Der große Schlaf«. Wer sich daran nicht erinnert, erinnert sich an die Verfilmung mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall. Chandler fand, Bogart sei als Marlowe-Darsteller »genau richtig«. Er hatte diesen Humor.
Zugegeben: Ich neige ein wenig zum Absurden. Und ich bin der Überzeugung, dass es letztlich der Humor ist, der entscheidet. Raymond Chandlers Texte schenken mir ein Lächeln. Die Sorte Lächeln, das man in der Hosentasche fühlen kann. Wie der Altmeister sagen würde. Das macht ihn zu meinem offiziellen Lieblingsautor. Jetzt. Als ich den »Großen Schlaf« Anfang der 90er zum ersten Mal las, war ich zu jung für den Text. »Ekelhaft!«, notierte ich am Rand neben einer Kussszene. Ich war noch nicht hartgesotten genug. Ich hatte noch nicht genug vergessen, um Chandler zu verstehen.
Raymond Chandler gilt als Pionier der amerikanischen hardboiled novel. Aber im Herzen ist er immer ein viktorianischer Intellektueller geblieben. In Chandlers Geburtsjahr 1888 ermordet Jack the Ripper in London sein erstes Opfer. 1892, Chandler ist vier Jahre alt, erscheinen Arthur Conan Doyles The Adventures of Sherlock Holmes.
Bereits 1895 lassen sich Raymond Chandlers Eltern scheiden. Die Mutter geht mit dem kleinen Ray nach London. Dort besucht er das Dulwich College, eine britische Privatschule. In der Bibliothek des Colleges hängt ein Gemälde von Sir Galahad. Den moralischen Codex dieses mystischen Ritters wird Chandler später seinem literarischen Alter Ego mitgeben, dem hartgesottenen Privatdetektiv Philip Marlowe.
Auf seine Schulbildung ist Chandler zeitlebens stolz. Die Formulierung »I was raised on Latin and Greek« findet sich mehrfach in seinen Briefen.
In der sehr gut lesbaren Chandler-Biographie von Frank MacShane entdeckt man Fotos des Autors als dickes Baby. Er mopst sich im Matrosenanzug auf einer Plüschrekamiere. Seine Mutter ist eine fragile Dame mit gelegten Wasserwellen, Spitzenkleid und Perlohringen.
1912 kehrt Chandler in die Vereinigten Staaten zurück. Er landet in Kalifornien, wo er auf einer Aprikosenplantage und in einer Firma für Sportartikel Arbeit findet. Chandler bespannt Tennisschläger, 54 Stunden die Woche für 12,50 Dollar.
»In Kalifornien traf ich mit schicker Garderobe ein, einem Public-School-Akzent, keinerlei praktischer Begabung für den Erwerb des Lebensunterhaltes und einer soliden Verachtung für den Erwerb des Lebensunterhaltes und einer soliden Verachtung für die Einheimischen, die sich, wie ich mit Bedauern sagen muss, in einigem Maß bis auf diesen Tag gehalten hat«, schreibt Chandler 1950 an seinen englischen Verleger Hamish Hamilton.
Im folgenden Jahr absolviert er innerhalb von sechs Wochen einen auf drei Jahre angelegten Kurs für Buchführung. In der Molkerei Los Angeles Creamery wendet er die frisch erworbenen Kenntnisse als Buchhalter an.
Im Jahr 1917 meldet Chandler sich als Freiwilliger in der kanadischen Armee bei den Canadian Gordon Highlanders, um im Ersten Weltkrieg auf Seiten der Entente zu kämpfen. Seine Fliegerausbildung bei der R.A.F. ist noch nicht abgeschlossen, als der Waffenstillstand kommt.
Auf seinen Nachkriegsfotos ist Raymond Chandler ein anderer. Die Leichtigkeit ist weg. Er glaubt nicht mehr. Etwas anderes, unsteteres als das Sonnenlicht lässt seine Augen leuchten. »Old men with faces like lost battles«, soll er später selbst schreiben. Raymond Chandler ist bei Kriegsende gerade 30 Jahre alt. Er spricht nie über den Krieg. 1957 schreibt er: »Once you have led a platoon into direct maschine gun fire, nothing is ever the same.«
Die Buchhaltungskenntnisse legten den Grundstein für eine erstaunliche Karriere in der Ölindustrie ab 1919, obwohl Chandler das Geschäftsleben erklärtermaßen fatal war. Er lebt mit seiner Mutter zusammen, die 1923 an Krebs stirbt.
1924 heiratet Raymond Chandler Pearl Eugenie Hurlburt, genannt Cissy. Er hat sie bei Friday-Night-Soirees in einem Bekanntenkreis kennengelernt, der sich The Optimists nennt. Nichts könnte Chandler schlechter beschreiben.
Als er sie kennenlernt, ist Cissy verheiratet mit Julian Pascal, einem Pianisten und Komponisten. Die opulente Rothaarige langweilt sich in ihrer zweiten Ehe. Cissy ist 18 Jahre älter als Chandler, ein ehemaliges Aktmodell und It-Girl der Künstlerszene. Chandler hat das Gefühl, er würde sie aus ihrer Ehe erretten.
Cissy ist eine klassische Schönheit mit einer energischen Nase. Sie fühlt sich so wohl in ihrem Körper, dass sie sogar die Hausarbeit nackt erledigt. Ihre wilden Jahre hat sie in Harlem verbracht, Opium geraucht und als Künstlermodel posiert. Sie nennt Chandler »Raymio«. Es ist die große Liebe. Chandler schreibt: »Anything I did was just the fire for her to warm her hands at.«
1932 hat Raymond Chandler es bis zum Direktor von sechs unabhängigen Ölgesellschaften gebracht. Aber er ist rastlos und hegt eine fatale Liebe für Alkohol und Sekretärinnen. Chandler vernachlässigt seine Arbeit und wird schließlich entlassen.
Der arbeitslose Chandler fährt ziellos an der kalifornischen Küste auf und ab. Er liest das »Black Mask«-Magazin, ein Groschenheft mit reißerischen Kriminalgeschichten, und entdeckt seine Liebe zur amerikanischen Umgangssprache.
Chandler belegt einen Fernkurs für literarisches Schreiben. Es ist sein zweiter Anlauf, in England hat er schon einmal mit sehr guten Noten einen Kurs über das Schreiben von Kurzgeschichten abgeschlossen. Nach fünf Monaten verkauft er die 18.000-Wort-Geschichte »Blackmailers Don’t Shoot« für 180 Dollar an Black Mask. »Danach habe ich nie mehr zurückgeschaut, auch wenn mir beim Blick nach vorn noch so manchesmal recht unbehaglich zumute wurde«, schreibt er an seinen Verleger.
1933 lässt Raymond Chandler sich als Schriftsteller ins Telefonbuch von Los Angeles eintragen.
1939 erscheint »Der große Schlaf«, Chandlers endgültiger Durchbruch. In der Folge schreibt er 23 Kurzgeschichten, sieben Romane und das sogenannte Poodle-Springs-Fragment.
Ab 1943 engagiert ihn Hollywood regelmäßig, er ist an acht Drehbüchern beteiligt. Double Indemnity (mit Billy Wilder) und The Blue Dahlia werden für einen Oscar nominiert. Über Hollywood sagt Chandler: »Es war eine mörderische Erfahrung und hat mir wahrscheinlich das Leben verkürzt.«
In seiner Karriere erlebt Chandler eine der schlimmsten Schreibblockaden der Literaturgeschichte. Er hat keine Idee für das Ende des Drehbuchs der Blue Dahlia. Der Mörder, den er vorgesehen hat, wird vom Navy Department nicht zugelassen, weil er ein Soldat sein sollte. Die Filmcrew hat schon fast das gesamte vorhandene Skript gedreht. Hauptdarsteller Alan Ladd soll zur Armee eingezogen werden.
Paramond setzt Chandler unter Druck: Die Zukunft des ganzen Filmstudios hänge an diesem Film, teilt man ihm mit. Chandler ist entsetzt: Nüchtern kann er das Skript nicht vollenden, erklärt er seinem Freund, dem Filmproduzenten John Housemann. Gleichzeitig verspricht er Housemann jedoch: Wenn er zuhause arbeiten und dabei trinken kann, wird er es schaffen. Die letzen Szenen schreibt Chandler im ärztlich überwachten Vollrausch. Die Dreharbeiten sind ihm immer drei Textseiten voraus. »During those last eight days of shooting«, schreibt John Housemann 1965, »Chandler did not draw one sober breath, nor did one speck of solid food pass his lips.«
Chandler riskiert sein Leben für das Drehbuch. Die Produktion wird rechtzeitig fertig. Und die Bezahlung aus Hollywood ist fürstlich.
Die Chandlers könnten es sich erlauben, ein gutes Leben zu führen. Aber sie tun es nicht. Jahrzehntelang ziehen sie von einem bescheidenen, möblierten Haus oder Apartment ins nächste. Insgesamt 37 Adressen sind für Raymond Chandler in Los Angeles und Umgebung zwischen 1913 und 1959 nachgewiesen. Etwa jedes Jahr zieht das Ehepaar um. Nur von 1946 bis zu Cissys Tod 1954 werden die Chandlers für acht Jahre sesshaft. Sie kaufen ein Haus in La Jolla, 6005 Camino de la Costa, direkt am Meer.
»What simple lives they led«, schreibt Judith Freeman in »The Long Embrace«, ihrem großartigen Buch über Raymond Chandler und die Frau, die er liebte. »They woke. Cissy cooked. They ate. He wrote. She cooked again. They had lunch. He wrote some more und then stopped. They shopped. Saw a movie now and then. More cooking. Dinner. Bed.«
Extravaganzen? Kurioses? Bitteschön:
Die Chandlers teilen ihr Leben mit diversen schwarzen Perserkatzen, die alle Taki heißen.
Raymond Chandler hat eine Sammlung von Tierfiguren aus Glas. Jede Figur hat einen Namen.
Nach Cissys Tod verbrennt er alle Briefe seiner Frau. Nur ihre Rezeptsammlung bewahrt er auf.
Seit 1939 planen die Chandlers eine Reise nach England. Als sie 1952 schließlich stattfindet, wird sie zum Desaster. Raymond ist in England ein bekannter Literat, jeder will ihn treffen. Aber das Ehepaar hat die falschen Sachen eingepackt. Für die Fahrt durch den Panamakanal sind sie zu warm, für London zu leger und zu kalt. Raymond hat kein Dinner-Jaket und auch keine warmen Socken. Cissy hat kein Abendkleid. Sie verbringen Tage zu damit, die Bondstreet nach passender Kleidung abzusuchen, ohne fündig zu werden. Nicht einmal die richtigen Socken für Ray finden sie. Cissy wird krank. Sie schlagen wichtige Dinnereinladungen aus.
Nach dem Tod seiner Frau will Chandler sich im Badezimmer erschießen. Er schießt dreimal daneben.
Raymond Chandler ist ein schwieriger Mensch. »Ich gelte als hartgesottener Autor, aber das besagt nichts«, schreibt er an Hamish Hamilton. »Was in meinen Büchern hartgesotten wirkt, ist bloß Produktionsmethode. Persönlich bin ich empfindlich und sogar schüchtern. Hin und wieder kann ich äußerst bissig und steitsüchtig sein; zu anderen Zeiten bin ich sehr sentimental. Ich bin kein guter Gesellschafter, weil ich mich sehr leicht langweile, und der Durchschnitt ist mir nie gut genug, weder bei Menschen noch sonstwo.«
Raymond Chandler wird eine Menge nachgesagt. Er sei zu ehrlich. Er habe seine Mutter nochmal geheiratet, natürlich. Er sei homosexuell. Ein Schwulenhasser. Ein Snob. Kein Snob. Zu großzügig. Zu wehleidig. Alkoholiker. Romantiker. Ein Außenseiter. Ein frustrierter Bastard.
Vielleicht hätte er an die Ostküste gehen sollen.
New York?
Immer eine gute Wahl für Säufer.
Aber seine Frau verbietet ihm zu fliegen. Und sie hasst Schnee.
Nach ihrem Tod verbringt er seine letzten fünf Jahre mit Zusammenbrüchen, betrunkenen Selbstmordversuchen, halbherzigen Affären, drei Heiratsanträgen und zahllosen Gin Gimlets. Wie sagt Marlowe im »Langen Abschied«: »Alcohol is like love. The first kiss is magic, the second is intimate, the third is routine. After that you take the girl’s clothes off.«
Chandlers große Leistung besteht für mich persönlich in drei Dingen.
Erstens ist er ein begnadeter Stilist, der Meister der weiten Metapher. Er glaubt sogar, er hätte sie erfunden. Nun ja. Aber es ist unglaublich, wie genau der Mann beobachtet und wie fein er seine Szenen und Bilder strukturiert. Beispiel aus »Playback«: »Es war keine große Sache. Der Super Chief traf pünktlich ein und die Gesuchte war so leicht auszumachen wie ein Känguruh im Smoking.«
Stil? Die Kürze seiner Sätze hat Chandler von Hemingway gelernt. Er gibt es zu, aber es schmerzt ihn. Er haßte es, anderen etwas zu schulden. Manche seiner Sätze sind sehr kurz, wie zum Trotz. Beispiel: »Er trank.«
Figurenentwicklung: Das Urbild des Detektives als Einsamer Wolf hat vor Raymond Chandler bereits Dashiell Hammett mit seinem Sam Spade entworfen. Aber Hammett zeigt uns seinen Mann nicht aus der Innenperspektive. Chandler, so Judith Freeman, »exposed the man’s wounds, his longings, his endemic, incurable, ever-present loneliness. An existential separation oozed from the writing, like something dark seeping from an unseen place.«
Wie hat er das gemacht? Er hat es einfach gemacht. »It just happens, like red hair«, sagt Chandler. Natürlich ist die Wirkung seiner Prosa zu einem Großteil auf Schreibtechnik zurückzuführen, aber Chandler hat keine Lust, uns hier aufzuklären: »Any writer who cannot teach himself to write cannot be taught by others. Analyze and imitate. No other school is necessary.«
Na gut. Machen wir es eben auf die harte Tour, Chandler. Ärger ist ohnehin mein Geschäft. So oder so.
Und zweitens hat Chandler einem Mädchen so viel über Männer zu sagen. Über Männer im Allgemeinen und über Privatdetektive im Besonderen. Sein Schema? Der weiße Ritter. »A heroic man«, schreibt Judith Freeman, »working alone and with little pay and even less respect agrees to seek justice for an ordinary citizen who has no one else to turn to. The man works for himself, he is a loner with a shabby office – no wife, no kids, no family, no background, usually not even a friend – just a calling, as a kind of white knight seeking justice for the vulnerable and maltreated.«
Und drittens: der Humor.
Die Killerfrage des Publikums an jeden Autor ist: Die Hauptfigur, das sind doch Sie?
Zur Hölle damit. Denn Raymond Chandler, der Mensch, ist kein Stück wie Philip Marlowe, der Detektiv. Chandlers Antwort: »Yes, I am exactly like the characters in my books … I do a great deal of research, especially in the apartments of tall blondes. I am thirty-eight years old and have been for the last twenty years. I do not regard myself as a dead shot, but I am a pretty dangerous man with a wet towel. But all in all I think my favorite weapon is a twenty-dollar bill.«
Zur Hölle mit den Dollarnoten. Zur Hölle mit den Lesern. Zur Hölle mit dem Gin und dem Erinnern. Aber ganz besonders zur Hölle mit Ernest Hemingway.
1932. Chandler schreibt im Rahmen des Fernkurses literarisches Schreiben eine kurze Parodie auf die Schreibe von Ernest Hemingway. Sie trägt den Titel »Bier in der Mütze des Oberfeldwebels oder Die Sonne niest auch«. In diesem Text sinniert ein Mann namens Hank beim Zähneputzen über einen lausigen Kaffee: »Er hatte geschmeckt wie die Socken des Vergessens.«
Okay, Ray. Vermutlich warst du also hochsensibel, traumatisiert und schüchtern.
Aber wo zur Hölle waren deine Socken des Vergessens, als du sie wirklich brauchtest?
– Ich weiß, ich weiß. Du konntest sie nicht finden. Nicht mal in der Bond Street. Denn wenn du sie angezogen hättest, dann hättest du den Rest der Menschheit besser ertragen. Du hättest dich selbst besser ertragen. Du hättest dich verschenken können, du hättest 75 Marlowe-Romane geschrieben, wie Georges Simenon, aber zumindest 26 hättest du schaffen können, wie Donna Leon mit ihrem Brunetti. Auf jeden Fall 24, wie Patricia Cornw … ach, vergiss es.
Vergessen? Tja. Da wußtest du halt nicht, wie das geht. Du mit deiner ständigen Revolte gegen alles und jeden. »Sie kennen ja Chandler«, schreibst du über dich selbst. »Immer hat er etwas zu meckern.«
Und wenn du dich nicht traust, schickst du deinen Heiligen Marlowe vor, deinen »noble moral enforcer«, deinen Galahad.
Du hattest deinen Spaß, wenn es gut lief. »Nicht wahr, ich bin ein regelrechtes Scheusal?«, schriebst du an die Cheflektorin Bernice Baumgarten, nachdem du ihr gerade in zwei Sätzen den Unterschied zwischen show und tell erklärt hast. »Ich bin’s mit Vergnügen.«
Aber wenn es schlecht läuft. Dann weißt du, dass dein einziger Freund eine von dir selbst erschaffene Romanfigur ist. Dass du ein Heimatloser bist, sogar dir selbst ein Fremder ohne Vergangenheit.
Mit den richtigen Socken hättest du es schaffen können. Vielleicht hättest du vergessen, wie sie deine Bücher nennen: Zeitdokumente, Klassiker, Kunstwerke. Du hättest vergessen, dass du auf verlorenem Posten stehst. Dass du der Größte bist. Vielleicht.
Du sagt, du lebst dein Leben am Rande des Nichts. Mit den richtigen Socken hättest du vielleicht sogar von dort nach Hause gefunden. Ich hätte es dir gewünscht, Ray.
Bettina Kerwien
Zum Weiterlesen:
http://www.tagesspiegel.de/politik/geschichte/die-geschichte-the-long-goodbye/1478096.html
Chandler, Raymond: Der große Schlaf
Chandler, Raymond: Die simple Kunst des Mordens
Freeman, Judith: The Long Embrace. Raymond Chandler and the woman he loved
MacShane, Frank (Hrsg.): Raymond Chandler Briefe 1937-1959
MacShane, Frank: Raymond Chandler. Eine Biographie.
Riesen Erfolg: Schreibwerkschau special 2017!
Trotz starker Konkurenz durch das Tegeler Hafenfest haben wir bei der gestrigen Schreibwerkschau special 2017 im Rahmen der Reinickendorfer Schreib- und Lesetage am gestrigen 15.07.2017 wieder 70 Besucher gehabt.
Danke an die Humboldt-Bibliothek, dass wir da zu Gast sein durften. Danke an alle freiwilligen Helfer, die für Moderation, Ton, Musik, Buffet und Büchertisch gesorgt haben!
Zur Feier dessen möchte ich mal in einen Lobgesang auf die Volkshochschule Reinickendorf ausbrechen. Und zwar in ungewöhnlicher Weise. Seit Jahren singen wir auch zusammen und haben eine Hymne für den Kurs „Writer’s Coaching“ (Donnerstagskurs) geschrieben: Kurs Must Go On, gesungen zur Melodie von Queens „Show Must Go On“. Hier kommt der Text, und jetzt alle zusammen:
Kurs Must Go On!
Kurs Must Go On Songtext
Empty spaces – nothing we’ve seen before
Abandoned places – not in our Kurs no more
On and on!
Does anybody know what we are writing for?
Another writer – another mindless book.
Behind the curtain, don’t you dare to look.
Hold the pen!
Does anybody want to take it anymore?
Kurs must go on!
Kurs must go on!Yeah!
Inside my heart is breaking,
My writing may be faking,
But my smile, still, stays on!
Whatever happens, I’ll have to stop grovel.
Another heartache – another failed novel
On and on…
Does anybody know what we are writing for?
I guess i’m learning
I must be better now..
I’ll soon be turning, round the corner now.
Outside Dan Brown is breaking,
But inside in the dark I’m aching to be HIM!
Kurs must go on!
Kurs must go on! Yeah,yeah!
Ooh! Inside my heart is breaking!
My writing may be faking…
But my smile, still, stays on!
Yeah! oh oh oh
My story is painted like the wings of butterflies,
Fairy tales of yesterday, will grow but never die,
I can fly, my friends!
Kurs must go on! Yeah!
Kurs must go on!
I’ll face it with a grin!
I’m never giving in!
On with the Kurs!
I’ll top the bill!
I’ll overkill!
I have to find the will to carry on!
On with the,
On with the Kurs!
Kurs must go on.
Premiere für den „Mitternachtsnotar“
Manchmal werden Träume wahr.
20.04.2017, 19:30 Uhr: Ich durfte in der Tegeler Humboldt-Bibliothek, in der ich seit über 10 Jahren den „Writers-Coaching“-VHS-Reinickendorf-Kurs von Claudia Johanna Bauer besuche, die Premierenlesung nach Erscheinen meines neues Berlin-Krimis „Mitternachtsnotar“ halten. Und als Krönung hatte Claudia auch noch angeboten, den Abend zu moderieren.
Die Veranstaltung wurde durch die Bibliothek, den Verlag, Claudia und mich mit viel Einsatz beworben, sowohl in der Reinickendorfer Allgemeinen Zeitung als auch in der Berliner Woche und auf vielen lokalen Internetseiten war der Termin erschienen. Es war deshalb unheimlich voll, ich schätze, 100 Leute waren bestimmt da. Ich saß vorne hinter dem Lesetisch und sah dabei zu, wie sich der Saal füllte und dachte die ganze Zeit voller Dankbarkeit und Demut an eine Lesung von Peter Henning („Ein Deutscher Sommer“), bei der wir vor ein paar Jahren in der HuBi mal sechs (6) Leute waren. Und „Deutscher Sommer“ war immerhin ein Buch, das in der Zeit besprochen worden ist.
Claudia als Moderatorin, das war natürlich ein Sechser im Lotto, denn das verlieh der Veranstaltung einerseits ein „Qualitätssiegel“, andererseits war es ein belebendes Element, nicht nur die typische „Wasserglas-Lesung“ abspulen zu müssen, sondern auch noch eine Diskussion folgen lassen zu können.
Zur Einführung las Claudia meinen „Krimi-Lebenslauf“ vor, einen auserzählten Text, mit dem ich mich dem Publikum vorstelle und in dem hoffentlich klar wird, dass Moabit hart macht und wie Schreiberlinge ticken. Wer nicht schon zig Preise gewonnen hat und mit der Aufzählung derselben Eindruck schinden kann, muss sich halt etwas anderes einfallen lassen, damit die Veranstaltung in Schwung kommt und der Spannungsbogen steht. Dann las ich etwa 40 Minuten vom Anfang des Krimi-Textes und lieferte vor der Pause auch noch eine Leiche: Der Hausmeister baumelte am Dachbalken – es war schließlich eine Krimilesung, das Publikum hatte ein Recht auf eine Leiche!
In der Pause konnten die Zuhörer sich dann an einem Büchertisch der Tegeler Bücherstube mit Lesestoff eindecken. Davon wurde nach meiner Beobachtung auch reichlich Gebrauch gemacht und alles, was mir hingehalten wurde, wurde von mir gnadenlos signiert :-). Vielen Dank an die Tegeler Bücherstube für den Büchertisch mit allen meinen Büchern, sah toll aus!
Das Beste an der Pause war ein Catering-Stand, der aus der Privatinitiative von Bianka heraus entstanden und durch viele freiwillige Helfer aus allen VHS-Kursen tatkräftig unterstützt wurde. Dafür kann ich mich gar nicht genug bedanken!
Nachdem alle vom Rotwein gekostet und geplaudert hatten, war die Pause auch schon vorbei. Ich las noch die Duschszene (mit nacktem feuchtem Detektiv). Dann wurden sowohl von Claudia als auch aus dem Publikum eifrig Fragen gestellt und es entwickelte sich eine muntere Diskussion. Zum Beispiel über die Konstruktion der Hauptfiguren und über das Thema des Krimis (es ist die Gier).
Am meisten gefreut habe ich mich über die breite Spanne von mir bekannten und unbekannten Zuhörern. Der Jaron-Verlag war durch meine Lektorin Frau Hambitzer vertreten. Von der Familie, den VHS-Kursen über die alte Schulfreundin bis zum Kegelverein meiner Mutter und den Nachbarn waren alle da, aber eben auch viele, viele, die ich bis dato noch gar nicht kannte.
Vielen Dank für Eure Unterstützung, es war ein toller Abend, der im Nu vorbei ging und mir Spaß gemacht hat. Mein besonderer Dank geht an die Humboldt-Bibliothek und Frau Claudia Arndt. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass man so eine Chance bekommt! Danke, dass Sie den ortsansässigen Kulturschaffenden ein offenes Haus und einen wunderschönen Rahmen für ihre Werke bieten.
Ich wünsche mir, dass die Lesung der Auftakt zu vielen tollen Veranstaltungen in diesem Sommer mit dem „Mitternachtsnotar“ gewesen ist. Nächster Lesungstermin ist im Berliner Süden, am 14.06.17 um 19 Uhr im MoosGarten Kultur Café (https://www.moosgarten-kultur.com).
Link zu meinem Krimi:
http://www.jaron-verlag.de/neuerscheinungen.html
Mein Lieblingsort in Tegel:
https://www.berlin.de/stadtbibliothek-reinickendorf/
Wie ich mich vor jeder Lesung fühle (siehe unter „Proktophantasmist“):
https://de.wikipedia.org/wiki/Spuk_von_Tegel
Sehen wir uns beim nächsten Mal? – Ich würde mich sehr freuen.
Premiere für Johnny „Kap“ Arkona
Bei der diesjährigen Schreibwerkschau habe ich eine neue Hauptfigur ausprobiert: Johnny Arkona. Der Junge ist Boxer, und er ist einer von denen, die nie den ganz großen Durchbruch geschafft haben. Er hat ein paar Jahre lang geglaubt, das könnte tatsächlich passieren – dann ist er nur noch als Verlierer gebucht worden. Aber solange die Welt Gewinner braucht, braucht sie auch Verlierer. Und verlieren ist etwas, dass Johnny wirklich richtig gut kann.
Für mich war erstmal wichtig, dass Johnnys Stimme funktioniert. Ich habe noch nie eine Figur geschrieben, die so weit entfernt ist von mir wie Johnny. Aber das Feedback war ganz positiv.
Insgesamt ist die Schreibwerkschau 2017 (am 09.03.17) in der Humboldt-Bibliothek wieder eine richtig tolle Veranstaltung gewesen. Sie wird immer mehr zur „Scheibwerk-Show“. Wir hatten etwa 80 Zuschauer. Die Autoren verkleiden sich passend zu ihren Stories und lassen ihrer Kreativität freien Lauf. Diesmal unter anderem dabei: eine schwebende sprechende Frisierhaube, Frau Buttke, Dracula, eine echte Hexe, natürlich Donald T. (mehrfach), Livemusik von Klavier und E-Gitarre, und ein ziemlich angeschlagener Boxer.
Vielen herzlichen Dank an Claudia Johanna Bauer, die das Spektakel erdacht, in jedem Jahr begleitet und damit erst möglich gemacht hat – und das seit vielen Jahren! Wer in diesem Jahr nicht da war, sollte im nächsten Jahr unbedingt kommen.
Hier als keine Kostprobe mein Text, der auch gemeinsam mit den anderen wie in jedem Jahr in einem kleinen Büchlein erscheinen wird:
Letzte Runde
»Wie heißen Sie?«, fragt die Notärztin.
Und wieder überlegt man einen Moment zu lang. Dann sagt man: »Johnny Arkona.« Wie es sich gehört. Man will auch ganz manierlich die Hand geben. Aber das Tape ist blutig.
»Welcher Tag ist heute?«, will die Ärztin wissen.
Das Nachrechnen führt zu nichts. »Kampftag«, sagt man, weil man sich daran noch erinnert.
»Sie brauchen dringend eine Pause, Herr Arkona.«
Herr? Am Ring nennen sie einen einfach Dosentomate, Fallobst oder »Kap«. Aber eine Ärztin, das ist natürlich etwas ganz anderes. Ein Mann sollte in ihrer Gegenwart mehr anhaben als nur seine Trunks und seine Tattoos.
»Wie lange haben Sie schon Sehstörungen?«, fragt sie.
Das Licht der Taschenlampe schmerzt. Alles ist unscharf seit den Undercards in Oberhausen vor zwei Wochen. Aber man hat keine Lust auf Gequatsche, also: »Runde 8. Bin angezählt worden.«
Die Ärztin löst den Stopper an der Krankenliege. »Ich fahre Sie zum MRT«, sagt sie.
Wer eben einen Champ ausgeknockt hat, kann selber laufen. Aber beim Aufstehen rollt der Fußboden weg. Ein Griff ins Leere. Die Wände verschwimmen. Zwei Schritte zum Waschbecken, der Kohlrübeneintopf schießt aus Mund und Nase.
Die Ärztin drückt einen zurück auf die Liege.
„Sie haben ja ein riesen Totenkopf-Tattoo auf dem Rücken“, sagt sie.
„Ist eine lange Geschichte“, sagt man.
Sie schiebt los. Ihre Haare sind hell. Sie schaut wie eine Mutter. Bestimmt hört sie gerne Geigenmusik.
Die Liege ist zu schmal für die Schultern. Warum ist der Promoter noch nicht da? Ein Gedanke, der die Nase wieder bluten lässt. Der Promoter gibt dem Publikum, was es will: zwei halbnackte Kerle, die sich gegenseitig umbringen. Man selbst wollte dem Publikum auch mal was geben. Was, hat man vergessen.
Die Gänge sind lang und leer. Die Ärztin telefoniert im Gehen.
»Ich habe Sie in der Radiologie angemeldet, Herr Arkona«, sagt sie.
Das MRT ist ein Rohr mit einer Liege in der Mitte.
»Können Sie alleine auf das Gerät rübersteigen?«, fragt die Ärztin.
Man kann einen 90-Kilo-Brocken mit einem Schlag umhauen. Jetzt muss die Frau einen stützen.
Sie sticht einem etwas in den Arm, fixiert den Kopf. Man denkt an Laboraffen. Dann ist man allein.
»Wir spritzen Ihnen jetzt ein Kontrastmittel«, sagt eine Lautsprecherstimme, wie bei einer Hinrichtung.
Der Körper wird heiß.
Das Herz will schlagen.
Es hat zu wenig Platz.
»Einatmen«, befiehlt die Stimme. »Nicht atmen. Weiteratmen.«
Ein Mann ist nicht dafür gemacht, in einem Plastiksarg angeschnallt zu sein. Ein rechter Haken löst das Problem.
»Sie hätten das MRT nicht gleich völlig zerlegen müssen«, sagt die Ärztin. »Ich gebe Ihnen was zur Beruhigung. Wir nehmen Sie stationär auf. Der nächste Schlag an den Kopf bringt Sie um.«
»Schläge an den Kopf«, sagt man, »sind mein Geschäft.«
»Wir brauchen noch Ihre Krankenkarte«, sagt sie.
Das Krankenzimmer ist dunkel und warm. Der Promoter kommt nicht. Man zählt die Falten an der Gardine. Die Augen brennen vom Cutgel. In diesem Bett sind Menschen gestorben, denkt man.
Am Nebenbett hängt ein Bademantel. Auf dem Flur ist nur Nacht und Stille. Man trifft niemanden. Das ist gut. Es gibt Dinge, die sieht einem jeder am Gesicht an. Ob man es will oder nicht.
»Bist du nicht Kap?«, fragt der Taxifahrer. »Kap Arkona?«
»War ich mal«, sagt man.
Der „Mitternachtsnotar“ kommt: Interview mit ABS
Die Bloggerin Ann-Bettina Schmitz hat mir im Vorfeld des Erscheinens des „Mitternachtsnotars“ ein paar spannende Fragen gestellt! Danke! Ihren Blog findet Ihr hier: http://lesen.abs-textandmore.de/
Auch heute habe ich wieder eine Krimiautorin zu Gast. Diesmal kommt mein Interview-Gast aus Berlin.
Guten Tag Bettina Kerwien.
Grüß Dich, Ann-Bettina Schmitz. Schöner Name übrigens
Dein neuester Krimi „Mitternachtsnotar“ soll Ende nächsten Monats erscheinen. Kannst du uns schon etwas darüber verraten?
Der »Mitternachtsnotar« thematisiert eine furchtbare Entwicklung überall in Berlin, nämlich die sogenannte Gentrifizierung. Als das an der Uni Thema war, dachte ich immer, das ist ein US-amerikanisches Problem. Schließlich ist Kreuzberg ja nicht Manhattan. Aber die Zeiten ändern sich. Aus Kreuzberg wird Kreuzkölln, und aus »Eigentum verpflichtet« wird Gewinnmaximierung. Aus Gründen der Gier und, weil der Immobilienmarkt es eben derzeit hergibt, arbeiten Eigentümer von Wohn- und Gewerbeimmobilien in Berlin in den letzten Jahren erfolgreich an ihrer Rendite. Das klingt immer so abstrakt, aber in meinem Bekanntenkreis ist es passiert: In der ganzen Nachbarschaft wurden Modernisierungsankündigungen zugestellt, mit Wärmedämmung, neuen Fenstern, neuer Heizung, neuen Bädern (freistehende Wanne), Wintergarten und allem Schnickschnack, und man sollte statt EUR 500 plötzlich EUR 2.500 Miete bezahlen. Dann ist da ein Gefühl von Hilflosigkeit, Entwurzelung, Angst und Existenzbedrohung. 500% Mieterhöhung, da hat der eine Panik, der andere hegt vielleicht sogar Mordgedanken … Jedenfalls steht viel auf dem Spiel.
Aber der »Mitternachtsnotar« ist auch eine Liebesgeschichte. Privatdetektiv Martin Sanders hat Angst vor dem, was er für die freche Escortlady Liberty Vale empfindet. Natürlich sind sie Freunde. Sanders redet sich ein, ihm reiche das, aber Liberty findet, dass Männer und Frauen keinesfalls »nur Freunde« sein sollten – die Evolution hat das doch gar nicht so vorgesehen!
Du bewirbst „Mitternachtsnotar“ ebenso wie seinen Vorgänger „Märzwinter“ als Berlin-Krimi. Berlin scheint als Handlungsort für Krimis sehr beliebt zu sein. Hast du eine Erklärung dafür? Was ist an diesen beiden Krimis so typisch berlinerisch?
Jetzt könnte ich natürlich sagen: Berlin ist halt voller Verbrecher! Würde ich so falsch liegen? Wer weiß. Übrigens hat mein Agent mal eine Absage von einem Verlag für einen meiner Texte bekommen mit der Begründung, Berlin hätte sich als Krimischauplatz nicht bewährt. Aber das war wohl tatsächlich eher eine Einzelmeinung.
Ich schätze, dass so viele Krimis in Berlin spielen, weil es noch aus Mauerzeiten eine »Frontstadt« ist, ein Schwellenort, ein Tor in eine andere Welt, da kann man sich viel vorstellen. Die neue Architektur ist einerseits messerscharf, aber auf dem RAW-Gelände zum Beispiel sieht es aus, als wäre der Krieg erst seit gestern zuende gegangen. Man spricht vom gläsernen und vom steinernen Berlin. Die Leute mögen Döner und den billigen Jägermeister aus den Spätis sowie wüste Techno-Clubs mit unwägbarem Türpersonal. Wer noch nie in New York war, könnte glatt denken, Berlin sei voller skurriler Irrer, die mit ihrem Pony U-Bahn fahren. Nicht alles habe ich mir ausgedacht.
Zu den Möglichkeiten des Schauplatzes Berlin gehört auch, dass die Stadt unfertig und unübersichtlich ist, inszenierte Individualität trifft auf unfreiwillige Anonymität. Man kann gut verschwinden, untertauchen. Man kann alles haben oder nichts. Realitäten prallen aufeinander. Berlin ist die Stadt der Kontraste, es gibt das ganze Spektrum, die ganz Armen und die ganz Reichen. Es gibt auch die unterbesetzte und überforderte Polizei, die im »Mitternachtsnotar« geschildert wird. Das sind alles Standortvorteile für Verbrecher.
Mein Buch »Märzwinter« spielt in Berlin-Mitte, in Moabit. Im Moabit nennen sie es einen Moabit-Krimi. Weil die Hauptfiguren dort wohnen, und die Leute bei den Lesungen lachen, wenn sie die Straßen, Geschäfte und Gebäude wiedererkennen. Eine Pizzeria, die unter anderem Namen im »Märzwinter« vorkommt, hat sich trotzdem erkannt und mir im letzten Jahr eine Lesung angeboten. Das war eine der besten Lesungen, die ich je hatte. Wirklich am Originalschauplatz. Der Wirt hat immer wieder gesagt: »Sie müssen schon mal hier gewesen sein!« – dabei hatte ich alles im Internet recherchiert.
Na ja, moderne Zeiten. Zum Thema Berlin bin jetzt glatt ins Plaudern geraten. Hast Du’s gemerkt? Ick liebe meine Stadt.
In deinem ersten Krimi „Machtfrage“ geht es auch um politische Zusammenhänge in Bezug auf die RAF-Terroristen. Was interessierte dich an der RAF so, dass du einen Krimi rund um dieses Thema geschrieben hast?
Eigentlich wollte ich nur das Geld. Das Geld der RAF-Terroristen aus ihren Banküberfällen. Es gab oder gibt ja diese sogenannten »Erddepots«, in denen die RAF-Aktivisten Geld, Waffen, Munition, Briefpapier usw. versteckt hatten bzw. haben. Nur einige wenige dieser Depots wurden je von der Polizei gefunden. Die restlichen sind da draußen noch irgendwo, gut gefüllte Erdlöcher im Wald oder sonstwo, und warten auf ihre Entdeckung.
In der »Machtfrage« geht es mir vor allem um eine Stiftung, die sich mit korrupten Lokalpolitikern anlegt. Um die Stiftung mit genügend Kapital auszustatten, wollte ich nicht den üblichen Lottogewinn oder die abgenuddelte Erbschaft. Ich lasse einen der Stiftungsgründer zufällig ein Erddepot finden. Mit dem Geld spekuliert er dann an der Börse, als er genug zusammenhat, gründet er die Stiftung.
Das andere spannende Thema in dem Text ist: Was macht der Terrorist, wenn er feststellt, dass die Revolution nicht stattfinden wird? Arrangiert er sich mit der nie gewollten Lebenswirklichkeit und wird sentimental und bürgerlich-privat? Oder geht er unter mit einem letzten großen Knall? Im Buch entscheidet sich Ex-RAF-Mitglied Michael Glass für ein Ende mit Schrecken und will den Berliner Reichstag in die Luft jagen.
Jeden deiner Krimis hast du bei einem anderen Verlag herausgebracht. Warum das denn?
Das war leider keine freiwillige Entscheidung. Der Gmeiner-Verlag kaufte die Rechte an der »Machtfrage«, wollte dann aber erst den Erfolg des ersten Buches abwarten, bevor er das zweite Manuskript annimmt.
Ich schrieb aber natürlich weiter, das nächste Manuskript lag bald fertig da, und der »Märzwinter« verkaufte sich unerwartet schnell an den Sutton-Verlag. Wir mussten dann den Erscheinungstermin um ein halbes Jahr nach hinten schieben, damit der »Märzwinter« der »Machtfrage« nicht völlig das Wasser abgräbt. Leider wurde der Sutton-Verlag 2015 verkauft und stellte nach dem Frühjahrsprogramm 2016 die Regionalkrimis ein.
Gott sei Dank gelang es meinem Agenten aber auch für das nächste Manuskript wieder, einen neuen Verlag zu finden. Diesmal ist es der Berliner Jaron-Verlag geworden, worüber ich mich sehr gefreut habe. Ich denke, ein Berliner Verlag kann einen Berlin-Krimi besser einschätzen und befördern. Außerdem ist der Jaron-Verlag gut vernetzt und sehr engagiert in Berlin.
Auf deiner Homepage habe ich gelesen, dass Lesen für dich sehr wichtig ist. Liest du nur Krimis oder auch etwas anderes?
Eigentlich lese ich hauptsächlich Sachbücher zur Recherche, das heißt zum Beispiel im Moment gerade »Der rote Faden – Grundsätze der Kriminalpraxis« (Hrsg. Clages/Ackermann). Auch das Thema Realitätskonstruktion durch Sprache treibt mich aus aktuellem Anlass gerade um, ein spannendes Buch ist das »Wörterbuch des besorgten Bürgers« (Feustel u.a.). Was hat es zum Beispiel mit dem Konstrukt »Toleranzfaschismus« auf sich? Die Autoren entlarven die Ideologien hinter den Wörtern. – Also, ich bin ein Sachbuchfan. Das habe ich von meinem Papa.
Wenn ich zum Krimi greife, dann sind es oft klassische amerikanische Pulp-Detektiv-Geschichten. Mein Liebling ist der Roman Noir, ich liebe dieses Melancholisch zum Beispiel bei Raymond Chandler. Der Noir spielt mit den Hoffnungen der Menschen. Er gaukelt einem vor, am Ende könnte alles gut werden und lässt den Leser dann zerstört zurück. Die Hauptfigur natürlich auch. Das hat etwas sehr Urbanes, das hat viel mit Berlin zutun. Die Unmöglichkeit von Glück. Das Gefühl, dass einem die zweite – wichtigere – Hälfte abhanden gekommen ist, ist ein sehr berlinisches Gefühl.
Mit Carola Wolf zusammen hast du auch etwas ganz anderes als Krimis geschrieben: „Ladies´ Night“ ist eine Sammlung von sexy Storys. War das nicht schwierig, plötzlich mit jemandem zusammen ein Buch zu schreiben?
Darin habe ich viel Erfahrung. Über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren habe ich mit etwa acht (das schwankte) altersgemischten Menschen zusammen einen Thriller über einen Anschlag bei der Fußball-WM 2006 geschrieben. Dieser Text soll demnächst auch erscheinen, er heißt »Tödliches Sommermärchen«. Technisch gesprochen haben wir den Text szenenweise unter uns aufgeteilt und die »Schreibe« im Nachhinein aneinander angeglichen. Besonders das Plotten war immer sehr hitzig, aber auch wahnsinnig kreativ. Hat viel Spaß gemacht. Ich kann das Schreiben zu Mehreren nur empfehlen, man lernt unheimlich viel – übers Schreiben, über Menschen, über Gruppendynamik. Über Kompromisse.
Das Buch »Ladies‘ Night« ist eine wie ich finde sehr gelungene Konstruktion, die meine Freundin und Kollegin Carola Wolff erdacht hat (www.carolawolff.de). Es gibt eine Rahmenhandlung, nämlich die »Ladies‘ Night« in der Bar »Zur grünen Fee«. Dort steht der Teufel hinterm Tresen, und der lässt eine anwesende Schriftstellerin reihum in die Köpfe der anwesenden Gäste schauen und deren sexuelle Fantasien erleben. Die Geschichten stehen also alle mehr oder weniger für sich. Für mich war das eine super Möglichkeit, meine Hauptfiguren für den »Märzwinter« besser kennenzulernen und auszuprobieren, wie sie reagieren. Und es hat viel Spaß gemacht, die ersten Publikumsreaktionen auf die Figuren zu bekommen.
Du scheinst ja die Abwechslung zu lieben: Nach einem Studium, das eigentlich nicht viel mit Werbung zu tun hatte, hast du eine eigene Werbeagentur aufgemacht und dann später ein Stahlbauunternehmen gekauft. Und jetzt schreibst du Krimis. Was kommt als Nächstes? Ein eigener Verlag? Science-Fiction-Romane? Oder wirst du Politikerin?
Politikerin zu sein, würde mich in den Wahnsinn treiben. Die ganzen Egomanen, zu denen Du sehr, sehr nett sein musst! Auweia. Könnte ich nicht. Aber ich hätte Lust, Cockerspaniel zu züchten.
Jetzt mal im Ernst: Ich liebe Projekte. Ich möchte immer ein Projekt haben, das ich möglichst von A-Z selbst gestalten kann. Wir machen viel Stahlbau im Bereich Theatertechnik. Ein guter Kontakt nach Kuwait hat sich in der »Machtfrage« niedergeschlagen. Eine Anfrage des Berliner Fernsehturms gab mir die Idee für den Showdown im »Märzwinter«. Das befruchtet sich also.
Schreiben ist für mich gleichzeitig ein Projekt und ein Meta-Projekt. Die Autorin muss das Buch schreiben (also das Projekt umsetzen), gleichzeitig ist sie »Gott« in ihrem selbst erschaffenen Projekt. Die Sonne scheint, wenn sie es will. Die Joghurtkultur ist rechts- oder linksdrehend, je nachdem, was sie will. Alles hört auf mein Kommando. Das ist cool. Das ist ganz anders als im richtigen Leben. Das ist wie Urlaub, quasi. Also, vielleicht mache ich das mit dem Schreiben noch eine ganze Weile. Und dann erst die Cockerspaniel.
Bist du so ein gut organisierter Mensch, dass du neben deiner Tätigkeit für das Stahlbauunternehmen noch Bücher schreiben, Lesungen halten und dich z. B. in der Volkshochschule Reinickendorf engagieren kannst?
Nein. Ich bin überhaupt nicht gut organisiert. Das gleiche ich mit Fleiß aus. Und ich schlafe weniger als andere. Ich habe aber auch viel Hilfe von Familie und Freunden.
Für die Volkshochschule muss ich eine Lanze brechen. Die tollen »Writers‘ Coaching«-Kurse von Claudia Johanna Bauer an der Volkshochschule Reinickendorf besuche ich seit über 10 Jahren. Ich verdanke Claudia alle handwerklichen Kenntnisse und Fähigkeiten bezüglich des Schreibens. Das miefige Image der verstaubten Volkshochschule trifft in Berlin kein Stück zu. Die VHS Reinickendorf fördert uns angehende Autoren mit Kursen, Lesungsmöglichkeiten und Lesetrainings. Das Beste ist aber, dass man sich hier Woche für Woche mit Gleichgesinnten austauschen kann. Hier findet man Probeleser und Freunde, die sich gegenseitig unterstützen.
Das lässt sich übrigens auch über die Mörderischen Schwestern sagen, wo ich auch Mitglied bin. Ich wünschte, der Tag hätte nicht nur 24 Stunden, dann könnte ich mich da mehr einbringen.
Dein neues Projekt soll etwas mit dem Mond zu tun haben?
Ja, im letzten Jahr gab es in Berlin einen Supermond, der auch noch ein sogenannter Blutmond war – der Mond war sehr groß, der größte Mond seit 70 Jahren, und leuchtend rot. Da fiel mir auf, dass Berlin und der Mond oft miteinander zu tun haben – Volker Kutscher schreibt über den »Lunapark«, die ur-berlinischste Operette von allen heißt »Frau Luna«, usw. Das ist eine gute Grundlage für ein Symbol, das einem Text Tiefe gibt.
Der Mond macht die Leute verrückt. In meinem nächsten Krimi (Arbeitstitel »Mond über Mitte«) ersticht ein Täter im Hühnerkostüm eine Frau namens Dr. Valeria Lunar in einer Autowaschanlage. Klingt lustig. Ist es aber nicht.
Möchtest du den Leser*innen sonst noch etwas erzählen?
Hier kommt noch eine kleine Text-Kostprobe, nämlich der Anfang von »Mond über Mitte«, damit Ihr eine Idee davon bekommt, was und wie ich schreibe:
Warschauer Ecke Revaler Straße wird vor allem gesoffen. Eine Wodkaflasche fliegt auf die Straße, ein Taxi fährt drüber, der Reifen platzt. Das Geräusch geht im allgemeinen Partyvolkgeschwirre unter. Der Wagen fährt einfach auf drei Rädern weiter.
Es ist die dritte tropische Vollmondnacht in Folge, die Martin Sanders mit Observation verbringt. Das dünne Baumwollhemd klebt ihm an Brust und Rücken.
Im Radio sagen sie, dass ein Atlantiktief auf dem Weg nach Berlin ist, im Gepäck ein paar Tonnen roten Saharastaub. Es wird regnen, heißt es. Der Regen wird rot sein, so rot wie der Krimsekt, den die schöne Radiologin Dr. Valeria Lunar dort drüben am Imbiss auf der Ecke aus der Flasche trinkt.
Als Valeria den schönen Raik an sich presst und auf das kantige Kinn küsst, drückt Sanders den Auslöser seiner Kamera. Raik ist zu jung für Valeria und außerdem ein stadtbekannter Scheidungsgrund.
Moral? Muss man sich leisten können. Natürlich übernimmt Sanders jede Art von Scheidungsfällen. Für 50 Euro die Stunde plus Spesen würde er sogar einen Junggesellinnenabschied organisieren, wenn es sein müsste.
Vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast. Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg bei deinen Unternehmungen.
Vielen Dank für die tolle Gelegenheit, mich über mein Lieblingsthema »Schreiben« auszulassen!
Neues Projekt, neues Motto
Ein Exposé schreiben macht keinen Spaß. Muss aber sein. Wie soll man sonst sein neues Projekt jemandem erklären? Und wie soll man sonst wissen, worauf man hinschreibt? Im Krimi ist es wichtig, das Ende zu kennen. Und das mache ich mir beim Schreiben des Exposé immer besonders deutlich.
Ich plane einen neuen Berlin-Krimi. Und die Symbolik soll diesmal – neben einer zentralen Methaper – aus dem Themenbereich rund um den „Mond“ kommen.
In der letzten Woche habe ich das Motto für den Text gefunden und gleich einen Inspirationsschub bekommen – soo schön!
Paridel
He went to the house where the moon lived. She lay upstairs, sleeping on a bed made of ivory and moths‘ wings. He climbed the bone staircase, kissed her white paper mouth, and left.
Nothing changed in the house. But after he left, the night glowed a bright, blood red.
SIAN THOMAS
in: Mini-Sagas, An Anthology of Fifty-Word-Short Stories (Reclam 2007)
Bei dem Motto schreibt sich die Geschichte doch fast von allein …
Neue Lesungstermine 2017
In diesem Jahr geht mein besonderer Dank an die Humboldt-Bibliothek, wo ich oft zu Gast sein werde. Schön, dass es so eine tolle Bühne für uns Reinickendorfer Autoren gibt, und danke für das Engagement! Alle Termine des ersten Halbjahres hier:
Die Termine:
„Hilfe, ich möchte veröffentlichen!“ (VHS Reinickendorf)
Nicht wirklich eine Lesung, aber ich schaue vorbei bei einem VHS-Kurs und stehe für die Fragen der Teilnehmer/innen zur Verfügung.
Ankündigungstext des Kurses: „Wer gerne schreibt und auf eine Veröffentlichung hofft, sollte sich über die Abläufe im Literaturgeschäft informieren: Zu welchem Genre gehört mein Text eigentlich? Wie finde ich den richtigen Verlag oder Agenten? Und was ist zu bedenken, wenn ich meine Story auf eigene Faust veröffentlichen möchte? Der Workshop gibt zunächst eine Übersicht über bewährte und aktuelle Genres sowie Tipps zur Verlagssuche. Der zweite Teil vermittelt Hintergrundwissen zu den Arbeitsgängen, die ein Manuskript im Verlag durchläuft; Infos, die jeder Selfpublisher haben sollte, bevor er Lektorat und Satz einer Publikation übernimmt.“
Der Kurs geht über zwei Tage, aber ich komme vorbei am:
Sonntag, 12.2.2017
ca. 15 Uhr
Lehrstätte am Schäfersee, 13407 Berlin, Stargardtstraße 11-13, Raum 109
Anmeldung über VHS Reinickendorf: https://www.vhsit.berlin.de/VHSKURSE/BusinessPages/CourseDetail.aspx?id=441789
Die Schreibwerkschau 2017
Die Schreibwerkschau bietet eine bunte Mischung. Fatales, Bizarres, Groteskes. Vieles, das einen beim Zuhören berührt. Aber natürlich auch Lustiges. Im freien Vortrag. Als szenische Lesung. Oder mal ganz anders. Immer überraschend. Jedes Jahr noch beeindruckender.
Im Mittelpunkt der literarischen Schreibwerkstätten steht das Erlernen und regelmäßige Training des schriftstellerischen Instrumentariums. Dabei sind viele spannende Kurztexte entstanden. Die Autorinnen und Autoren lesen aus ihrer Produktion.
Donnerstag, 9.3.2017
19.30 Uhr
Humboldt-Bibliothek, Berlin Reinickendorf
Karolinenstr. 19
Eintritt 3.- Euro
Buchpräsentation von „Mitternachtsnotar“
Ich stelle meinen neuen Berlin-Krimi „Mitternachtsnotar“ mit Unterstützung des Jaron-Verlages vor: http://www.jaron-verlag.de/neuerscheinungen.html
Die Veranstaltung wird moderiert von Claudia Johanna Bauer.
Donnerstag, 20.4.2017
19.30 Uhr
Humboldt-Bibliothek, Berlin Reinickendorf
Karolinenstr. 19
Eintritt frei
Die Schreibwerkschau Special 2017
Erfolgsautoren des Writers Coaching Kurses von Claudia Johanna Bauer stellen ihre Bücher/Neuerscheinungen vor.
In diesem Jahr habe ich den „Mitternachtsnotar“ und allerhand Antworten auf Fragen, die Euch vielleicht noch gar nicht eingefallen sind, im Gepäck.
Sonnabend, 15.7.2017
16.30 Uhr
Humboldt-Bibliothek, Berlin Reinickendorf
Karolinenstr. 19
Buchportal zur Hölle
Die wahre Bedeutung von „Mängelexemplar“? Paß auf:
Ich schreibe hier über ein Taschenbuch von – ? das ist unklar, wir werden sehen – mit dem deutschen Titel „Todesahnung“. Das Cover: Aufschrift „James Patterson – Todesahnung – Thriller – Nr 1 Bestseller – US-Flagge“. Und das Coverbild ist ein Foto: eine amerikanisch anmutende Stadt bei Nacht, im Vordergrund Palmen, im Hintergrund Hochhäuser.
Dreht man das Buch aber um, stellt man fest: Es spielt in New York. Gibt’s da Palmen? Nur im Palmengarten des World Financial Centers, aber na gut. Leser sind ja nette, kompromissbereite Menschen. Also Schwamm drüber.
Schlagen wir das Buch auf. Wir bekommen auf der Innenseite des Umschlags erzählt, dass James Patterson „einer der besten Thrillerautoren der Welt“ (USA Today) sei. „In den letzten Jahren standen 19 seiner Bücher in Folge auf Platz 1 der New York Times Bestsellerliste. Seine Romane wurden in 27 Sprachen übersetzt und erreichten weltweit eine Gesamtauflage von über 150 Millionen Exemplaren.“
Wow. Hut ab. Problem: Mr. P. hat das Buch gar nicht alleine geschrieben. Wir lesen auf Seite 2: „James P. mit Howard Roughan: Todesahnung“
Na gut. Also war das wohl ein sehr schwieriges Buch, dass Mr. P es nicht alleine geschafft hätte, und da hat er halt einen Freund zur Hilfe geholt. Das kann ihm der nette Leser nachsehen.
Also legen wir los mit Lesen. Echt sehr spannend. Eine junge Fotografin, die ein Verhältnis mit ihrem Chef hat, gerät in eine Crime Scene nach einer Schießerei vor einem Hotel. Sie fotografiert vier Leichensäcke. An einem öffnet sich der Reißverschluß und eine blutige Hand erscheint. – Diese erste Szene ist drei Seiten lang, es ist die längste Szene im ganzen Buch. Im weiteren Textverlauf sieht und fotografiert die Fotografin tote Menschen und dreht zunehmend durch.
Der Text wird dargeboten in 14 „Teilen“ und 111 Szenen auf 348 Seiten.
Das geht wie folgt: Eine Szene ist 1 1/2 Seiten lang und endet mit einem „falschen Cliffhanger“. Hatte ich auch vorher nie gesehen. Die Szene endet mit einem Cliffhanger, man macht zur Auflockerung der Finger ein bisschen Blättergymnastik und blättert um zur nächsten Szene, die eine Seite danach mit einer großen (sehr großen) grauen fortlaufenden Zahl beginnt. Und in der neuen Szene geht der Text dann aber nahtlos und in derselben Perspektive und demselben Erzählzusammenhang weiter, d. h. es wird stringent erzählt und der vermeindliche Cliffhanger sofort wieder aufgelöst. Die Unterteilung in vermeindliche Erzählabschnitte ist nichts als ein grafischer Trick, der uns zum Umblättern bringen soll. Bäh. Fingersport. Billig, aber es funktioniert. Zum Schluß bin ich gespannt wie ein Flitzebogen, wie die Autoren das mit den toten Menschen in Manhattan auflösen (und das mit den Palmen). So. Und? Was passiert?
Seite 339: Die Schießerei im Hotel vom Buchanfang wird „live“ präsentiert, die Fotografin wird an- oder erschossen (zunächst denke ich er-, dann ist es doch an-?). Ein toter Polizist erscheint und eröffnet ihr: Sie war ein sehr sehr sehr böses Mädchen. Finger weg vom Chef. Und das Hotel ist übrigens ein Portal zur Hölle.
Da passiert es: Meine Nette-Leser-Flexibilitätsgrenze ist überstrapaziert. Sprechen wir nicht über Formulierungen wie „Ich habe solche Angst“. Sprechen wir darüber, dass die Heldin kurz vor Schluß denkt: „Jetzt ist mir alles klar.“ Mir nämlich auch, und zwar, dass ich es mit Erweckungsprosa der übelsten Sorte zutun habe. Denn die an- oder erschossene Fotografin blutet seitenlang das ganze Hotel voll und bereut. Was? Dass sie anderen Menschen „wehgetan“ hat. So. Und prompt erscheint eine Notärztin wie ein rettender Engel und verkündet: „Die Frau lebt noch!“ -Ende des Textes.
Etikettenschwindel! Ich will meine 10 Euro wiederhaben! Ich will keine biblische Erlösungsgeschichte hören, wenn auf dem Buch Thriller draufsteht! Ehrlich gesagt will ich überhaupt nix Übersinnliches in einem Thriller hören, es sei denn, das wird mir vorher angekündigt. Das ist für mich ein Taschenspielertrick für Autoren, denen keine Auflösung für ihre Story einfällt. Ich fühle mich, als sei ich auf dem Weg durchs Naturkundemuseum falsch abgebogen und in der Show eines schmierigen Amateurzauberers gelandet. Unter Palmen. Wo ich nicht hinwollte. Das ist Betrug am Leser, das Buch „liefert“ nicht, was es verspricht. Also ein klassisches Mängelexemplar von einem Bestseller und bestenfalls Papierverschwendung. Schlimmstenfalls verfestigt sich beim Leser die qualitative Vorstellung, dass so Thriller sein sollten/müssen/immer so sind/so hingenommen werden müssen. Damit würde man sich mit so einem Buch selbst ins Knie schießen. Denn wer läßt sich schon gerne ver***schen? Nach diesem Literaturgenuß kauft der nette Leser vielleicht keinen James Patterson mehr. Vielleicht gar keinen Thriller. Sondern gleich die Bibel.
– Na? Bereut schon jemand? Dann kommt auch gleich die Notärztin. Versprochen!