Im Konferenzraum läuft leise »Wonderful World«. Louis Armstrong singt von grünen Bäumen und roten Rosen.
»Kein Zweifel möglich?«, frage ich.
Dr. Gero Schnupp rückt nervös seine Brille zurecht. »Hören Sie«, sagt er, und seine Stimme beugt sich vor. »Ich weiß ja nicht, für welche Zeitung Sie schreiben …«
»Ich bin freier Journalist«, lüge ich.
»Gut, gut. Also was wir hier machen, das ist ü-ber-aus seriös«, sagt er und tippt nachdrücklich auf eine Hochglanzbroschüre. Darauf ist das moderne Firmengebäude abgebildet, eine DNA-Doppelhelix, dazu der Werbeslogan »Entdecken Sie Ihre Wurzeln – mit DNA-Genealogie!«
Genealogie, das ist nur ein anderes Wort für Ahnenforschung. Eigentlich interessiert mich so ein Quatsch nicht. Ich bin, wie ich bin. Vor allem bin ich kein Journalist. Aber ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, denn der Leiter des »MyGenX«-Institutes hat mich persönlich angerufen und dringlich herbestellt.
Dr. Gero Schnupp wischt sich die Hände an seinem Kittel ab. Sein weißer Schnurrbart zittert. »Sie haben unserem Institut Ihre DNA zur Verfügung gestellt, damit wir Ihre ethnische Herkunft beleuchten und Ihnen helfen, Ihre Verwandten zu finden.«
Ich schlage die Augen nieder. »Ich habe immer gefühlt, dass mir im Leben etwas fehlt«, säusel ich. »Ich möchte meinen Stammbaum erkunden und darüber schreiben.«
»Wir wollen Ihnen wirklich helfen«, sagt er. »Mehr als 35 Millionen Menschen haben sich von uns bereits einen DNA-Test schicken lassen. Auch die Polizei interessiert sich dafür. Wussten Sie, dass die meisten von uns mit einem Schwerverbrecher verwandt sind? Die Frage ist nur, wie weitläufig.«
»Ich war ganz erstaunt, dass so ein Test nur 59 EUR kostet«, nicke ich.
»Moderne Sequenziertechnik macht es möglich.« Der Doktor tupft sich den Schweiß von der Stirn.
»Und der Test ist einfach durchzuführen!«, schwärme ich. »Ich habe nur mit dem Wattestäbchen je einen Abstrich von der Mund- und der Nasenschleimhaut genommen und es dann wieder in die Post gesteckt. Rufen Sie denn alle Ihre Kunden persönlich an, wenn ihr Ergebnis da ist, Herr Dr. Schnupp?«
»Nein.« Er räuspert sich und schaut an mir vorbei. »Wirklich nicht.«
»Sie machen es aber spannend«, sage ich.
»Hören Sie – wollen Sie noch etwas trinken?« Er zeigt mit dem Kinn auf unsere Kaffeetassen. »Etwas Stärkeres vielleicht?«
»Nein, jetzt schießen Sie schon los. Was haben Sie herausgefunden?«
»Wir haben aus Ihrer DNA 750.000 Merkmale, sogenannte Punktmutationen, ermittelt. Das ist unsere Standardvorgehensweise. Aus diesen Mutationen entwickeln sich keine Krankheiten. Aber sie vererben sich von Vater und Mutter auf Kinder, Enkel und spätere Generationen. Je enger zwei Menschen miteinander verwandt sind, desto mehr Punktmutation haben sie gemeinsam.«
Dr. Schnupp macht eine dramatische Pause.
»Okay«, sage ich und lache unsicher. »Bin ich ein Alien oder sowas?«
»Nein.« Er runzelt die Stirn und setzt die Brille ab. »Entschuldigen Sie bitte. Aber …«
Dr. Schnupp erklärt mir, was er da gefunden hat.
»Ich bin – was?«, frage ich tonlos.
»Also, genotypisch natürlich. Ja. Es tut mir leid. Aber DNA lügt nicht!«
Yes, I think to myself – what a wonderful world, singt Louis Armstrong, und dann ist er fertig. Ich auch. Ich starre ins Nichts.
»Haben Sie denn nie etwas gemerkt?«, fragt Schnupp.
»Ich bin farbenblind«, sage ich leise.
»Ja, das ist typisch.« Dr. Schnupp setzt seine Brille wieder auf. »Ich würde gerne noch weitere Proben von Ihnen nehmen.«
»Ja, ja«, murmel ich und stehe auf. »Na klar, das hätten Sie wohl gerne.«
»Ich habe da eine Assistentin, die sucht noch ein Thema für ihre Doktorarbeit«, sagt Dr. Schnupp und greift nach meinem Arm. »Darf die Sie vielleicht mal anrufen?«
Ich weiche seiner Hand aus, renne aus seiner Firma auf die Straße, taumele wie betäubt zur S-Bahn und fahre ins Büro. Während draußen die Brandwände der Mietshäuser vorbeiziehen, kann ich nur eins denken: Ich wusste es. Ich habe es die ganze Zeit gewusst.
Hinter der Scheibe mit der Aufschrift »Private Ermittlungen« liegt Emse brav in seinem Körbchen unter dem Schreibtisch. Als er den Schlüssel im Schloss hört, springt auf und kommt schwanzwedelnd auf mich zu. Er ist ein flauschiger Mischling, groß, helläugig.
»Komm, wir gehen was essen«, sage ich.
Emse wufft. Er legt den Kopf schief, seine Zunge hängt raus, seine Unterlippe ist rosa und feucht. Er lächelt.
»Ja, ja – ich erzähl’s dir gleich«, sage ich.
An der großen Kreuzung bleibt Emse ganz selbstverständlich stehen, weil die Ampel rot ist. Als sie auf Grün springt, geht er neben mir über die Straße. Unser Ziel ist die Imbissbude am Kanalufer, die wir beide so mögen. Ich nehme Schnitzel/Pommes und bestelle für Emse eine Wurst ohne Darm. Ich setze mich auf unsere Bank am Ufer, Emse daneben. Wir sehen den Ausflugsdampfern nach. Emse schmatzt beim Fressen.
»Erinnerst du dich noch an meinen aktuellen Fall?«, frage ich schließlich. »Dieser Hobby-Ahnenforscher, der glaubt, dass die DNA-Genealogie-Plattform MyGenX ihre Kunden systematisch betrügt? Weil die ihm mitgeteilt hatten, dass seine Familie aus Italien stammt und er ein entfernter Cousin von Al Capone ist?«
Emse leckt seine Wurstpappe ab und winselt zustimmend.
»Um herauszufinden, ob MyGenX seriös arbeitet, habe ich DNA eingeschickt. Wollte mal sehen, ob die mir auch absurde entfernte Verwandte andichten würden. Gerade hatte ich ein Gespräch mit dem Chef von MyGenX, Dr. Gero Schnupp. Und weißt du, was der mir erzählt hat? Ich habe zwei verschiedene DNA-Stränge. Das bedeutet, ich hätte eigentlich ein Zwilling werden sollen. Während sich Föten typischerweise aus nur einer befruchteten Eizelle entwickeln, sind es bei der von Schupp untersuchten DNA zwei. Noch im Mutterleib sind die beiden befruchteten Eier zu einem Fötus verschmolzen, der zwei unterschiedliche genetische Codes trägt – zwei verschiedene DNAs. Einzelne Organe können in so einem Fall eine andere DNA haben – in diesem Fall die Nase und der Mund. Die eine DNA ist man selbst, die andere stammt vom eigenen Zwilling. Den hat man noch im Mutterleib absorbiert.«
Emse jault gequält. Es klingt, als reiße die Saite einer Bratsche. Er reibt sich mit der Pfote übers Gesicht.
»Ja, reg dich nicht auf«, sage ich. »Dieser Dr. Schnupp hätte mich jedenfalls am liebsten aufgespießt und präpariert wie einen Käfer. Weißt du, was eine Chimäre ist, Emse?«
Emse schüttelt sich und schaut mich von unten her an.
»Du kannst das Theaterspielen lassen«, sage ich und gebe ihm einen Klaps.
Emse tritt nervös von einer Pfote auf die andere.
»Du hast ja selbst gehört, wie der Junge im Park neulich gesagt hat, dass du aussiehst wie Nicolas Cage«, erinnere ich ihn. »Wegen deiner Augen.«
»Bah!«, wufft Emse.
»Jedenfalls hat mir Dr. Schnupp vorhin erklärt«, grinse ich, »dass ich nicht nur über menschliche DNA verfüge. Zu großen Teilen bin ich ein Hund.«
Emse rollt noch ein bisschen dramatischer mit den Augen. »Du hast meine DNA eingeschickt, nicht deine!«, brummelt er. Er hat eine schöne, tiefe Stimme.
»Bist du jetzt auch noch beleidigt?«, lächel ich. »Ich meine: Du hast menschliche DNA! Du kannst sprechen! Wann wolltest du mir das sagen?«
»Viele Hunde können sprechen«, gähnt Emse. »Wir tun es nur nicht.« Er legt sich hin, schlägt die Pfoten übereinander und schaut auf den Kanal hinaus.
»Du bist angepisst, weil ich deine DNA eingeschickt habe«, stelle ich fest.
»Du hättest fragen können«, brummelt er. »Und das mit diesem Nicolas Cage – der hat ja kaum noch Haare, und mein Vater war ein Königspudel!«
Ich lache und zerzause sein Fell. »Und deine Mutter? Wir müssen es Dr. Schnupp ja nicht erzählen.«
»Vielleicht holst du mir erstmal noch ein Schnitzel«, sagt Emse.
Ich stehe auf und gehe zurück zum Imbiss, bestelle das Schnitzel und zwei Bier. Der Kanal glitzert in der Sonne. And I think to myself, summe ich vor mich hin, what a wonderful world. Oh yeah.
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Diese Geschichte ist ein Ausflug in ein für mich eher ungewöhnliches Genre: die Phantastik.
Ich freue mich sehr, dass ich in diesem Monat als Gastautorin bei #phantastischermontag dabei sein darf. Vier Autor*innen schreiben wundersame Geschichten, jeden Montag eine neue, für einen phantastischen Wochenstart.
Tja, und in Monaten mit fünf Montagen (so wie heute) kommen die Gastautor*innen zum Zuge. In 2021 lassen wir uns von unseren Lieblingssongs zu Geschichten inspirieren. Im Mai ist es Wonderful World von Louis Amstrong.
Hier die Links zu den anderen Geschichten:
Carola Wolff hat eine merkwürdige Begegnung in Wonderful World.
Bei Christian Raaven ist Wahltag.
Maike Stein überlegt Vielleicht noch nicht.
Alexa Pukall schickt einen Schneckenbändiger ins Rennen.
Mehr über #phantastischermontag auch auf ihrer Facebook-Seite und bei Instagram. Auf ihrem Twitch Kanal werden an jedem letzten Montag des Monats alle Storys live gelesen.
Viel Vergnügen beim Entdecken, Lesen, Zuhören!