Der erste Satz ist super: „Die mittleren Jahre, in denen du weder jung noch alt bist, sind verschwommene Jahre.“

Zufällig bin ich in den mittleren Jahren und auch verschwommen, da fühle ich mich gleich abgeholt. Es ist natürlich nahe am Klischee, aber das mag ich. Nahe am Klischee vorbeiführt die Abkürzung zum Herzen des Lesers, so oder so ähnlich denke ich mir das.

Das Buch ist im Grunde eine Abfolge von sanft wertschätzend entblätternden Porträts. Menschen interessieren sich ja vor allem für Menschen, und diese Marzahner hier, die zur Fußpflege gehen, die habe ich als unheimlich beruhigend empfunden. Sieh an, man kann sein Leben auch als gemeistert betrachten, wenn man nicht jeden Tag die Welt rettet. Es reicht, wenn alle fünf Kinder einen Beruf gelernt haben und man hat seine Beerdigung bezahlt.

Die Menschen werden nicht bloßgestellt, das tut gut. Hier wird sehr genau und wertschätzend hingeschaut, wo man sonst lieber wegschaut. Berlin haut ja auch gerne mal drauf. Aber hier ist Empathie am Werke, die aus Intimität erwächst. Selbst für den übergriffigen AltParteifunktionär hat der Text noch Verständnis, denn auch der will ja nur, dass sein Leben gelingt, und es gelingt eben nicht, weil er zeitlebens seinen Posten mit seiner Person verwechselt, c’est la vie. Anders eine herzliche Frau mit roten Locken, die dabei ist, sich in eine Matrone zu verwandeln. Sie erinnert die Fußpflegerin trotzdem noch an die schottische Königin Maria Stuart, und das funkelt.

Ich erkenne einfach so vieles im Text wieder. Den Menüplan von Frau Guse, der meiner Mutter bestimmt auch gefallen würde (Döner, Hähnchen, Chinapfanne). Die beruhigenden Worte der Autorin, dass man nicht gleich dement ist, wenn man im Alter mal etwas nicht versteht. Man entfernt sich bloß langsam von der Welt, in der man sich auskannte. Gibt die Verantwortung ab, auch für die eigenen Füße. Und da ist es ungemein tröstlich, wenn jemand wie die Fußpflegerin da ist, ruhig, humorvoll, empathisch. Solidarisch vor allem. Die Fußpflege ist ein billiges Vergnügen, und der Lohn der Salonbesitzerin ist der volle Terminkalender.

Eigentlich würde ich da gerne anfangen, denn ich bin auch so motiviert. Zufriedenheit ist mir angenehmer als Geld.

Der Satz von Seite 129 „Im Frühling liebt sie die gelben Blüten des Löwenzahns, der auf der Wiese vor dem Studio blüht, im Herbst die Kastanien, die in Hülle und Fülle unterm Baum liegen.“ (Blüte ohne „h“ und blühen mit „h“ Wunder der deutschen Sprache, und alles in einem Satz, ich persönlich hätte mir das weglektoriert, aber es fällt mir erst auf, wenn ich mit meinem Korrektoratshut draufschaue) lässt mich sofort an das sogenannte „Kopfkissenbuch“ der Hofdame Sei Shōnagon denken, dessen erster Satz lautet:

„Im Frühling liebe ich die Morgendämmerung, wenn das Licht allmählich wiederkehrt, die Umrisse der Berge sich schwach vor dem hellen Himmel abzeichnen und schmale, rosa angehauchte Wolkenstreifen über sie hinwegziehen.“

(Shōnagon, S. 5, Manesse, 2019)

Sei Shōnagon, die vor1.000 Jahren während der HeianPeriode der jungen Kaiserin am Hof in Kyōto diente, schrieb auf einem Bündel edlen Papiers, das sie in ihrem Kopfkissen aus Porzellan aufbewahrte, diese Art zu schlafen sollte die kunstvolle Frisur über die Nacht retten.

Die Welt war ein völlig andere damals. Die Zeit wird auch über Marzahn hinweggehen. Im Kleinen wird trotzdem vieles in Ordnung sein. Nicht jeder wird es schaffen, aber viele werden den kurzen Weg zum kleinen Glück (das ja eigentlich ein großes ist) finden.

Einen dieser Glückswege, den die Texte aufzeigen, habe ich schon selbst gefunden einen Struppi habe ich schon. Meiner ist ein kuschliger Dackel und heißt XMimi Taifun. Wir machen es uns auch schön im Kleinen. Eine Couch reicht. Das ist das Wichtigste.

Der Titel? „Marzahn Mon Amour“ ich weiß es nicht. Hätte da nicht ein Komma sein müssen? Mein eigenes vorletztes Buch heißt ja „Au revoir, Tegel“, weil es da um Franzosen auf dem Flughafen Tegel geht. Aber hier geht es eigentlich gar nicht um einen Ort und um Franzosen auch nicht, sondern um ein Konglomerat verdichteter Schicksale, die mit ihrer Energie einen Lebensstil prägen. Und der Titel signalisiert eine bildungsbürgerliche Distanz, die es dann glücklicherweise so gar nicht gibt im Text. Dafür bin ich sehr dankbar.

Ein Buch wie frische Fußbutter auf einem schwieligen mittelalten SenkSpreizKnickfuß, das einen für den Alltag wieder soft und geschmeidig stimmt.

 

PS

Marzahn Mon Amour habe ich gelesen im Rahmen der sehr schönen Aktion Berlin liest ein Buch.  Auf der Aktions-Seite der Berliner Humboldt-Bibliothek kann man sich angucken, wie Carola Wolff  und ich uns damit an ungewöhnliche Leseorte begeben. Das ist bestimmt die welterste Dackellesung! Viel Spaß damit.