Clue Writing Interview: Bettina Kerwien
Werte Clue Reader,
Obwohl im Moment sehr viel los ist, finden wir die Zeit für ein Clue Writing Interview. Heute möchten wir euch mit Bettina Kerwien eine Autorenkollegin aus dem stets lebendigen Berlin vorstellen. Die studierte Amerikanistin und Publizistin bringt vielseitige Erfahrungen mit, sei es nun aus dem Bereich Werbung oder aus der Industrie des Stahlbaus, wo sie Geschäftsführerin des Unternehmens stabotec ist.
In Bettina Kerwiens Debüt-Kriminalroman, „Machtfrage“, werden die Protagonisten in ein Netz aus Lügen, politischen Intrigen und Rachegelüste verstrickt. Der Leser folgt unter anderem der Geschichte von Ali, einem jungen Bauarbeiter, der unwissentlich in einen Komplott verwickelt wird, der viel grösser ist als er, bis ihn letztlich die Vergangenheit einholt und er vor eine schwere Wahl gestellt wird.
Die Autorin entführt uns in ein Berlin und Brandenburg nach dem Mauerfall, in dem sich Aufbruchsstimmung und Desillusion vermischen, jedoch nicht, ohne dabei einige Zwischenhalte rund um die Welt einzulegen, sei es nur auf einer Ölbohrplattform vor der schottischen Küste oder in der florierenden Stadt Kuwait City.
Dadurch, dass Bettina Kerwien viele Charaktere einführt, weckt sie bereits zu Beginn die Neugier darauf, wie sich ihre Wege kreuzen werden und lädt den Leser zum Spekulieren ein, indem sie Hinweise im Text hinterlässt. Sie schafft es, eine Spannung aufzubauen, die während der ganzen Lektüre aufrechterhalten bleibt.
Hallo Bettina,
Bevor wir in die schwarze Mercedes-Limousine steigen und uns, natürlich mit der notwendigen Vorsicht und gut bewaffnet, ins wilde Brandenburg der 90er-Jahre begeben, wollen wir eine wichtige Frage klären: „Berliner“ oder „Pfannkuchen“?
Pfannkuchen! Sagt man jedenfalls umgangssprachlich. EIGENTLICH heißt das leckere Ding aber – Überraschung! – Berliner Pfannkuchen. Da wir ja eh wissen, dass wir hier in Berlin sind, für uns natürlich doppelt gemoppelt. Für den Rest der Welt nicht. Weshalb Ihr Berliner sagt. Wir nicht. Berliner sind für mich übrigens am besten mit Puderzucker und Pflaumenmus. Du atmest beim Reinbeißen aus und kannst anschließend duschen und die Wohnung renovieren. Lebensfeindliche Dinge, die sich dem normalen Gebrauch widersetzen, sind unser Ding hier in Berlin. Stichwort Flughafen.
Vor kurzem ist dein Debütroman „Machtfrage“ beim Gmeiner-Verlag erschienen, der für seine zeitgenössischen und zeitgeschichtlichen Krimis bekannt ist. War dieser Verlag für dich eine logische Wahl oder handelte es sich bei dieser Zusammenarbeit um einen glücklichen Zufall?
Es war ein glücklicher Zufall. Der Kontakt kam über meinen Agenten Elmar Klupsch, Agentur BookaBook, zustande. Das Zeitgenössische an dem Krimi ergab sich aus zwei Umständen: Zunächst einmal habe ich an dem Buch vom ersten Satz bis zur Endfassung etwa zehn Jahre gearbeitet. Als ich anfing zu schreiben, spielte er in der Gegenwart. Das war 2004. Als der Verlag dann das Manuskript annahm, schrieben wir das Jahr 2013. Um den Text in die Reihe der zeitgeschichtlichen Krimis besser integrieren zu können, habe ich dann die Haupthandlung noch sechs Jahre zurück in das Jahr 1998 verlegt. Der Verlag wollte, dass die Geschichte vor dem Jahr 2000 spielt. Ich benötigte für den Plot eine große Baustelle in der City von Berlin, die Michael Glass in die Luft sprengen konnte. Ich habe mich für den Umbau des Reichstages für den Bundestag entschieden, der 1998 gerade im vollen Gang war.
In „Machtfrage“ verbindest du viele Handlungsstränge, die verschiedenen Protagonisten über einen längeren Zeitraum folgen und teils um den halben Globus führen, zu einer kohärenten Geschichte. Dass man bei all den Personen, Daten, Orten und Verbrechen die Übersicht behalten muss, liegt auf der Hand und alle Autoren haben ihre Tricks und Kniffe dafür. Wie bist du dabei vorgegangen?
Man muss sich zunächst einmal damit abfinden, dass man nicht alles Material, was man zu einer Geschichte hat, auch in den Text bringen muss oder letztendlich auch kann. Das Buch war ursprünglich mal bei 900 Seiten lang und wurde dann im Zuge mehrerer Probeleserrunden immer kürzer. Zunächst habe ich die 900 Seiten in drei Bände eingeteilt. Das wurde den Spannungsbögen aber dann nicht gerecht. Also habe ich die drei Bände wieder auf einen verdichtet – Sonnenaufgänge und innere Monologe raus. Ich bin froh, dass ich keinen Handlungsstrang entsorgen musste. Die Herausforderung war, dass ich ja für die Figurenentwicklung von jeder Figur – besonders von Ali – den kompletten Lebensweg präsent hatte. Ich musste mich ziemlich beschränken. Der Anteil der »deleted scenes« ist ziemlich hoch. Um den Überblick zu behalten, notiere ich Daten in einem Zeitstrahl – Geburtsdaten und wichtige Ereignisse. Trotzdem mussten Probeleser und Lektorat noch das eine oder andere geradeziehen. Der Trick ist somit: ein gutes Team!
Du hast einen sehr spannenden Karriereweg, der dich von der Universität, über die Werbebranche bis hin zum Stahlbau geführt hat und bei der Lektüre deines Romans fällt auf, dass du viele Erfahrungen in den Text einfliessen lassen konntest. Inwiefern beeinflussten deine Erfahrungen und dein Wissen die Gestaltung der Protagonisten und die Wahl der Handlungsorte?
Ohne das »wirkliche Leben« müsste ich viel mehr recherchieren. So nehme ich einfach alles, was mir passiert. Die Kollegen können sehr inspirierend sein. Die Geschichte mit dem selbstgebauten Druckluftvorderlader zum Beispiel glauben mir selbst Männer, die Schlosser gelernt haben. Weil’s halt in der Praxis erprobt ist.
Deine Charaktere haben die unterschiedlichsten Hintergründe und Motivationen. Sei es nun ein junger Bauarbeiter, ein korrupter Politiker, ein schreibender Professor oder gar ein alternder RAF-Terrorist, du setzt sie alle glaubwürdig in ihre Welten, die sich gegenseitig berühren. War es dir ein Anliegen, derart vielfältige Persönlichkeiten zu vereinen oder wurde das von der Story vorgegeben?
Der Bauarbeiter ist die »normale Figur«, die das Identifikationsangebot an den Leser macht und ihn durch die Geschichte trägt (so wie Sam im »Herr der Ringe«). Ansonsten habe ich mich bemüht, die Figuren glaubwürdig zu motivieren. Der halb durchgeknallte RAF-Terrorist sieht vor lauter Selbstverdinglichung halt nur die Hälfte der Welt – und zwar die schlechte Hälfte. Der korrupte Politiker ist im Grunde ein Familienmensch, er will das Erbe seiner Familie zurück. Die Bösen müssen auch immer bis zu einem bestimmten Punkt für den Leser verständlich sein. Ich mag es persönlich nicht, wenn Figuren klischeehaft motiviert sind (Psychopathen, die eine schlechte Kindheit hatten, führen bei mir zum Beispiel oft zum Leseabbruch). Das ist mir zu einfach und auch zu wenig lebensecht.
Die Überzeugungen und Ideale der Terroristen, die in der Roten Armee Fraktion waren, sind ein wichtiges Thema in „Machtfrage“ und du beschreibst die Überlegungen eines RAF-Kämpfers sehr detailliert. Sind die RAF und ihre Ideologie ein Thema, dass dich seit jeher fasziniert hat?
Eigentlich wollte ich die Geschichte einer Stiftung erzählen, die ein Gegenentwurf zur heutigen Bankenlandschaft sein sollte. Die Stiftung hilft in finanzielle Not geratenen Menschen. Banken agieren heute so, dass sie in Krisensituationen die Lage ihrer Kunden eher noch eskalieren. Das ist leider die Lehre aus dem Berliner Bankenskandal. Um die Auenwehr-Stiftung finanziell ausstatten zu können, brauchte ich Startkapital. Professor Johannson musste irgendwie zu Geld kommen. Ein Lottogewinn oder eine Erbschaft war mir zu »abgeluscht«. Ich las, dass ein Großteil der RAF-Erddepots, in denen die Terroristen Waffen, Ausweisformulare, Stempel, Briefpapier und eben auch das bei Banküberfällen erbeutete Geld bunkerte, nie gefunden wurden. Es wäre ja denkbar, dass jemand aus der zweiten Reihe die Lage eines solchen Depots erfährt und die Beute dann für sich reklamiert. So läuft das in »Machtfrage«: Martin Landauer ist überzeugt, dass die RAF ihm seine Schwester genommen hat – und dass er ein Recht hat, der RAF nun seinerseits das Geld zu nehmen, um es seiner Bestimmung zuzuführen. Und die Bestimmung des Geldes ist nach Landauers Meinung: soziale Ungerechtigkeit wieder gutmachen.
Oder um mit der GLS-Bank zu sprechen: »Geld ist für die Menschen da«, das ist auch meine innerste Überzeugung. Das ist eine der wichtigsten Botschaften des Buches.
Das ländliche Brandenburg nach dem Mauerfall aus deinem Roman erinnert an einzelnen Stellen etwas überspitzt ausgedrückt an einen Deutschen Wilden Westen, in dem sich gefährliche Gestalten mit Waffen und zwielichtiger Vergangenheit tummeln und das von einem korrupten Politiker mit eiserner Hand kontrolliert wird. Hast du solche Tendenzen in den 90er-Jahren selbst erlebt oder sind sie ausschliesslich in deinem Roman zu finden?
Das war schon wirklich so. Als »Wessi« habe ich damit zwar nur Erfahrung aus zweiter Hand. Aber wenn man sich zum Beispiel anschaut, was die Treuhand mit bestehenden Strukturen im Osten gemacht hat, dann wird schon klar, wie viele Chancen da verpasst wurden. Das hat auch sehr viel mit Macht zu tun. Das Kapital migriert. Statt auf nachhaltige Entwicklung zu setzen, wurden subventionierte Industrien und Investoren mit viel Aufwand viel zu schnell installiert, mit dem Effekt, dass im Augenblick der Krise alles wieder wegbricht. Beispiele dafür sind der Aufbau subventionierter Industrien wie der Solarindustrie und die Tertiarisierung, also der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft. In Berlin haben wir in den Jahren 1991 bis 2004 mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe verloren – vor allem in der Metall- und Elektroindustrie. Innerstädtische Industriearbeitsplätze sind so rar geworden wie Goldstaub. Das hängt auch damit zusammen, dass Banken Unternehmen mit hohen Lohneinsatzquoten nicht mehr finanzieren. Weil geringe Renditen unsexy sind und Geldmenschen in Panik versetzen. Mit anderen Worten: Wer das erwirtschaftete Geld direkt seinen Mitarbeitern gibt, gilt als zu dumm, um die richtig großen Profite zu machen. Das macht mich wütend. Nachhaltig ist es auch nicht. Aber dieser Weg wird gegangen.
Die Jahre der Wiedervereinigung nach dem Mauerfall waren für Deutschland zweifellos eine bewegte Zeit, in der gesellschaftliche Muster neu verhandelt wurden, was nicht immer reibungslos ablief. Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen und Erfahrungen trafen aufeinander und entdeckten neue Welten, ein neues Land mit ungewisser Zukunft. Diese mit gemischten Gefühlen verbundene Stimmung hast du deinen Lesern in „Machtfrage“ sehr treffend nähergebracht. Floss deine persönliche Erfahrung in diese Beschreibungen ein?
Nur meine Beobachtungen. Da wurden einfach ganz viele politische Fehler gemacht. Die Leute im Osten haben ihren kompletten Lebensentwurf verloren. Stattdessen wurden sie damit konfrontiert, dass ihre Kenntnisse und Fähigkeiten, ihre Kulturtechniken auch, für die Wessis zweitklassig waren. Das muss ein absolut mieses Gefühl gewesen sein. Ich kann mir diese Hilflosigkeit gut vorstellen und habe sie zum Beispiel in die Figur des Bürgermeisters von Bruchdorf verpackt.
Nicht der ganze Roman spielt in Deutschland, der Protagonist Ali verbringt auch Zeit in Kuwait City, eine Stadt, die du ebenfalls gut beschreiben kannst, von der schicken Promenade über den Verkehr bis hin zu den kulturellen Gepflogenheiten. Man kann sich dem Eindruck nicht erwehren, dass du ortskundig bist. Warst du bereits in Kuwait?
Ich habe regelmäßig beruflich mit Kuwait zu tun. Wir haben dort eine Fensterreinigungsanlage an den Aussichtskugeln der Kuwait Towers, die wir auch wartungsmässig betreuen. Es ist eine faszinierende, total andere Welt. Wenn man da arbeitet, sieht man die Details. Die romantische, auch die nicht so romantischen. Ich möchte die Erfahrung nicht missen, dass man (keine Wertung) das Zusammenleben von Menschen immer auch komplett anders organisieren kann, als wir es hierzulande tun. In Kuwait sieht man, was »Macht des Geldes« wirklich bedeutet.
Viele Handlungen in „Machtfrage“ spielen an historischen Orten, die du teilweise sehr detailgetreu beschreibst, sei es nun das Piper-Ölfeld vor der schottischen Küste oder die Baustelle des neuen Reichstagsgebäudes. Wie viel Recherche musstest du in diese Beschreibungen stecken und ist ein gewisser Teil davon der künstlerischen Freiheit überlassen?
Ich musste eigentlich vor allem Daten recherchieren. Die Reichstagsbaustelle und die Abläufe kannte ich aus eigener Anschauung. Auf einer Bohrinsel war ich zwar noch nie, aber die Explosion orientiert sich an einem realen Unglück, der Piper-Alpha-Katastrophe vor der Küste Schottlands von 1988. 167 der 229 Arbeiter an Bord der Plattform starben. Das ist im Internet sehr gut dokumentiert, man kann sich zum Beispiel den Bericht der Untersuchungskommission über den technischen Unfallhergang anschauen. Soetwas interessiert mich, und deshalb fand ich es leicht zu recherchieren. Weniger leicht verdaulich waren die Augenzeugenberichte der Überlebenden. Viele von ihnen erlitten schwerste Verbrennungen und brachten sich noch Jahre nach dem Unglück um, weil sie nicht mehr zurück ins Leben fanden. Für die schottische Stadt Aberdeen, die überwiegend vom Nordseeöl lebt, war das ein traumatisches Ereignis. Schottland ist einer meiner Lieblingsorte, das spielte sicherlich auch eine Rolle.
Ali, einer der wichtigsten Protagonisten in deinem Buch, muss nicht zuletzt wegen äusserer Umstände eine grosse Entwicklung durchlaufen und sich an veränderte Situationen anpassen. Ausserdem wird er vor einige schwere Entscheidungen gestellt, die nicht nur sein Leben, sondern auch das seines Umfelds beeinflussen und entscheidet sich dabei auch um, wenn es notwendig wird. Würdest du sagen, dass ein solcher Protagonist genretypisch ist?
Ali ist der typische reluctant hero, der widerstrebende Held. Ein Archetyp, ein normaler Mensch mit einer unschönen Vergangenheit und persönlichen Charakterschwächen, der durch die Situation gezwungen wird, sich auf eine Seite zu schlagen, sich zu entwickeln oder über sich hinaus zu wachsen (ähnlich wie z. B. Spiderman). Dazu sollte der Held entsprechend körperlich ausgestattet sein, daran habe ich mich gehalten, und das trägt auch für die weiblichen Leser zum Spaß am Lesen bei, hoffe ich.
Die Grenzen zwischen Richtig und Falsch sind teils sehr fliessend und verschwimmen, jeder verfolgt seine Ziele und hat seine eigene Agenda. Diese Ambivalenz verleiht deinen Charakteren Tiefe und macht es unterschiedlichen Lesern möglich, mit verschiedenen Figuren mitzufiebern oder zu hoffen, dass sie scheitern werden. Vielschichtigkeit kann jedoch auch ihren Preis haben – befürchtest du, dass es Leser gibt, die sich mit niemandem identifizieren können und ist eine solche Identifikation überhaupt notwendig?
Es ist in diesem Fall absolut wichtig, dass der Leser von einer Figur durch die komplexe Handlung getragen wird. Gerade in Büchern mit einem politischen Subplot. Ich wollte Ali als Identifikationsfigur anbieten und hoffe, das hat auch funktioniert. Ali ist auf der Suche nach einem ruhigen, normalen Leben mit einer befriedigenden Arbeit, ausreichendem Einkommen und Freunden – diese Ziel ist einfacher zu verstehen als Rache, politische Macht, persönliche Bereicherung oder gar, die Welt zu einem besseren Ort zu machen – Ziele, die die anderen Figuren im Buch verfolgen.
Nein, ich denke grundsätzlich, ein Roman wie »Das Parfum« oder »Der Untertan« hat auch ohne Identifikationsangebot an den Leser funktioniert. Das geht auch. Aber zumindest interessant genug muss die Hauptfigur sein. Das kann auch die Faszination des Bösen oder Mitleid sein.
Verschwörungen, Radikalität, Idealismus, Gier, menschliche Abgründe und eine gehörige Portion Opportunismus vermengen sich in „Machtfrage“ zu einer Geschichte mit vielen Verbindungen zwischen den Protagonisten, in der kaum etwas so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Man könnte behaupten, dass die meisten deiner Charaktere das eine oder andere düstere Geheimnis aus der Vergangenheit mit sich herumtragen, ob sie es nun wissen oder nicht. Gab es dabei Figuren, denen du aufgrund ihrer Vergangenheit oder Geheimnisse mehr Sympathie entgegengebracht hast als anderen und solche, die du auf den Tod nicht leiden konntest?
Meine Lieblinge sind gerade die krassen Typen. Ich neige dazu, Menschen mit einer starken Meinung, die sie auch begründen können, erst einmal toll zu finden – egal, ob ich der Meinung als solcher zustimme oder nicht. Die Bösen gut zu motivieren, ist eine echte Herausforderung. Deshalb kann ich ihnen vielleicht auch nicht wirklich etwas übelnehmen. Ich meine, Grendel will im Grunde nur das wieder, was seiner Familie aus seiner Sicht zusteht. Und Michael Glass ist ein sehr einsamer Mann, dessen Lebenszweck sich in Luft aufgelöst hat. Ali ist allerdings mein Grund gewesen, die Geschichte überhaupt zu erzählen. Ich bin eine Frau und 1,60 m groß. Ali ist 1,96 m, ein natürlicher Athlet. Wie ist es, so jemand zu sein? Was ist das für ein Körpergefühl? Das wirklich Coole am Geschichtenschreiben: Du kannst es einfach ausprobieren. Insgesamt finde ich es entspannend, dass mir noch keiner etwas Autobiografisches in diesem ersten Buch zeigen konnte. Hat sich auch noch keiner wiedererkannt. Aber das kommt schon noch :-).
In deinem Text gibt es Abschnitte mit knappen und prägnanten Sätzen genauso wie blumige, vergleichende Beschreibungen. Diese Stilmittel eröffnen bei ihrer gezielten Verwendung viele Möglichkeiten, etwas unterschiedlich zu erzählen sowie das Tempo und den Spannungsbogen einer Erzählung zu verändern. Ist diese sprachliche Vielfalt etwas, das du dir hart antrainieren musstest oder ein Talent, das du von Beginn an besessen hast?
Das ist vor allem Figurenentwicklung. Der Terrorist Michael Glass wird zum Beispiel in allen seinen Szenen immer leicht außenperspektivisch gezeigt. Ein Hauch von »Erzählerstimme« ist zu hören, die Glass‘ Taten und Gedanken kommentiert. Das entsprechende Vokabular habe ich RAF-Texten und Flugblättern entnommen. Wie hat man damals gesprochen? Das fand ich zum Beispiel im Original auf den sogenannten Stammheim-Bändern, eine Auswahl aus Mitschnitten der Bader-Meinhoff-Prozessen. Außerdem habe ich einen alten Duden von 1958, in dem sich Wörter finden, die in den 60er Jahren gängig waren.
Die Figur Ali wird hingegen vollkommen aus der Innenperspektive gezeigt. Er ist Handwerker und kennt alle Fachbegriffe aus der Produktion, die Bezeichnungen der Werkzeuge etc. Gleichzeitig neigt Ali kurzen, sachlichen Formulierungen zu. Er war im Ausland und sein Deutsch ist von anderen Sprachen, hauptsächlich Englisch, dezent eingefärbt.
Der Politiker und Machtmensch Grendel ist keinen Widerspruch gewohnt. Er formuliert schnodderig und frech und fährt Leuten unwidersprochen über den Mund.
Der vorsichtige Wissenschaftlicher Professor Johannson spricht in Sätzen mit Parataxe und Fremdwörtern. Er zitiert andere Wissenschaftler. Er ist unser Mann für größere philospohische Zusammenhänge und sagt zum Beispiel: »Was ist Macht, was ist politisch, was ist Extremismus – und woher kommt er?«
Die Berliner, die ab und an als Statisten die Szenerie bevölkern, Berlinern natürlich – aber auch das in Abstufungen.
Mit anderen Worten: Die Sprache der jeweiligen Figuren und Szenen orientiert sich an der Funktion für die Geschichte.
Bei der Lektüre deines Romans entsteht der Eindruck, dass du der Erzähltradition und dem Genre des Noir verbunden bist und dich darin gut zurechtfindest. Inwiefern prägt diese Stilrichtung deine Schreibarbeit und was ist dein Verhältnis als Autorin und Leserin zu ihr?
Der Roman Noir oder auch die hardboiled detective novel ist mein Lieblingsgenre als Leserin. Das ist vom Studium her hängengeblieben. Ich stehe besonders auf Figuren, die das Leben mit einer gewissen zynischen Distanz sehen, wie Raymond Chandlers Ermittler sie zu ihrem erzählten Leben haben. Das hat mich stark geprägt. In der »Machtfrage« sieht man es noch nicht so sehr, aber bei »Märzwinter«, meinem zweiten Buch, das im Herbst bei Sutton erscheint, wird das sehr deutlich werden. Einige Figuren wandeln immer an der Grenzen zum Absurden, aber ich nehme sie bierernst. Das ist Berlin, Freunde.
Deine Website ist zugleich ein Blog, auf dem unter anderem auch Beiträge über dein Schreiben und Empfehlungen für andere Texte zu finden sind. Ist das Bloggen für dich ein wichtiger Bestandteil deiner Arbeit als Schriftstellerin oder etwas, das du nebenher betreibst?
Das ist hauptsächlich PR. Ich versuche, mit meiner nicht vorhandenen Erfahrung und meinen nicht vorhandenen Kontakten, meine »Machtfrage« so gut wie möglich bekannt zu machen.
Das Bloggen ist aber gleichzeitig auch ein netter Weg, seine Gedanken und Erlebnisse beim Lesen und Schreiben in kurze Texte zu fassen. Ob Bloggen wirklich für mehr Leser sorgt? Ich habe meine Zweifel. Aber das Bloggen fällt mir auch nicht schwer.
Trotzdem bin ich halt kein digital native, dazu bin ich zu alt, und ich glaube an das Nachdenken. Das ist oft mit Schweigen verbunden. Ich habe letztens einen sehr spannenden Artikel in der Zeit gelesen: »Wer schweigt, ist verdächtig im Debattenfuror unserer Gegenwart«, schreibt Wiebke Porombka. Und weiter: »Als vor 100 Jahren jene grundsätzlichen Sprachzweifel aufkamen, war eine der wesentlichen Neuerungen, durch die das soziale Miteinander und das Leben der Einzelnen neu justiert wurde, übrigens der elektrische und motorisierte städtische Nahverkehr. Liest man in Berichten über Gerichtsverfahren dieser Zeit, trifft man immer wieder auf zuweilen tödliche Unfälle, die sich ereigneten, wenn Menschen auf die Straßenbahn aufspringen wollten, was damals noch während der Fahrt erlaubt war. Oder aber, weil sie, nicht trainiert in dichterem Verkehr, ohne nach rechts und links zu schauen eine Straße überquerten und von einer Bahn erfasst wurden. Nach ein paar Jahren hatten sich die Menschen an den Verkehr gewöhnt, die Unfälle wurden seltener. Will sagen: keine apokalyptische Medien- und Technikschelte an dieser Stelle. Wir werden es überleben. Aber vielleicht zwischendrin mal schweigend nach rechts und links gucken. Dann sprechen.«
Das trifft meine Meinung ganz gut.
In deiner Autorenvorstellung erwähnst du, dass das Sammeln von Stilblüten dein Hobby sei und du dich für Charles Bukowski und Diana Gabaldon gleichermassen begeistern kannst. Damit eröffnet sich ein weites Feld, das die Frage nahelegt: Was ist dein Bezug zum geschrieben Wort als Leserin?
Ich bin ein literarischer Allesfresser. Am allermeisten lese ich eigentlich Sachbücher, das habe ich von meinem Papa. Der hat mich früher immer mit in die Bücherei genommen, um Fachbücher auszuleihen. Mich interessiert eigentlich alles. Das kann auch eine Last sein. Ich habe einen peinlich hohen Stapel ungelesener Bücher und entdecke andauernd etwas Neues. Teuer ist das auch.
Doch Literatur ist nicht alles, was dein Leben prägt. Du hast zudem eine Führungsposition im Stahlbau inne und bist auch sportlich aktiv. Lässt sich in einem derart vielseitigen Leben alles unter einen Hut bringen, oder gibt es Augenblicke, in denen du kaum genug Zeit für deine Schreibarbeit findest?
Ich bekomme oft zu wenig Schlaf :-). Das gilt vor allem für Phasen, wenn ich auch noch Werbung für veröffentlichte Texte mache und arbeite und schreiben müsste. Und lesen auch noch. Der Tag hat halt nur 24 Stunden. Da hilft es, Texte gut durchzuplanen. Nicht gerade meine Lieblingstätigkeit, aber sehr hilreich. Wenn man dann eine Szene in der Woche schreibt, verliert man trotzdem das Ziel nicht aus den Augen.
Zu Beginn dieses Interviews haben wir erwähnt, dass es sich bei „Machtfrage“ um einen Debütroman handelt. Wenn man deine Seite ansieht, entsteht der Eindruck, dass dir das Schreiben wichtig ist und es liegt der Verdacht nahe, dass du deine Leser sehr bald wieder mit einem längeren Text beglücken wirst. Auf was können sie als nächstes hoffen?
Der nächste Verlagsvertrag ist schon unterschrieben. Im Herbst wird »Märzwinter« im Sutton Verlag erscheinen. Das ist wieder ein Kriminalroman, allerdings auch eher ein untypischer Text und noch näher am Noir. Eine sehr gut aussehende Steawardess mit einem sehr großen – nein, nicht NUR was Ihr denkt – Mundwerk ermittelt an der Seite eines geheimnisvollen Privatdetektives. Die Stadt Berlin wird hier noch plastischer, und auch der ganze Stil kommt meiner eigenen Stimme viel näher. Man entwickelt sich halt beim Schreiben.
Ein anderes tolles Projekt befindet sich auch auf der Zielgeraden: Ich habe gemeinsam mit acht anderen Autoren einen Thriller geschrieben, der von einem Attentat auf das Berliner Olympiastadion beim Fußball-WM-Endspiel 2006 erzählt. Das Buch wird als Ebook erscheinen, der Titel ist »Tödliches Sommermärchen«.
Zu guter Letzt wollen wir es aber doch noch ganz genau wissen. Du stehst in einem verlassenen Gebäude im Schatten, hältst deine Neun-Millimeter-Pistole umklammert, während sich ein zwielichtiger Kapitalist und ein RAF-Terrorist mit gezogenen Waffen gegenüberstehen. Es bleiben dir nur wenige Atemzüge, dich zu entscheiden, ob du jemandem helfen willst und wenn ja, wem. Was tust du?
Ich halte es mit Professor Johannson aus der »Machtfrage«: »Gewalt ist kein legitimes Argument«, sagt er. »Niemand darf die Erfahrung machen, dass er mit Gewalt etwas bewirken kann.« Also sichere ich meine Knarre, stecke sie in den Hosenbund und gehe. Als ich draußen in meinen Wagen steige, höre ich zwei Schüsse. Alles im Leben gleicht sich irgendwie aus, denke ich. Ich lege den Tag beiseite wie einen alten Aktendeckel, fahre in die Stadt und kauf mir ein Spaghettieis. Mit Himbeersoße.
Wir von Clue Writing möchten uns herzlich bei Bettina Kerwien bedanken, dass er sich die Zeit genommen hat, unsere Fragen zu beantworten. Ausserdem geht unser Dank auch an Christine Krause vom Gmeiner-Verlag, welche uns ein Rezensionsexemplar von „Machtfrage“ zur Verfügung gestellt hat.
„Machtfrage“ ist ein Kriminalroman für alle, die in unsere jüngere Geschichte abtauchen und sich dabei auf eine turbulente Reise voller Komplotte, Verbrechen und kollidierender Ideale begeben wollen. Bettina Kerwien verarbeitet die Abgründe, die sich bei einem Blick in die Vergangenheit eröffnen, zu einem modernen Noir-Krimi mit historischen Elementen, den wir den Fans dieses Genres wärmstens empfehlen können.
Besucht Bettin Kerwien auf ihren Seiten:
www.bettinakerwien.de
Twitter: @schreibkraftBK
Leserunde bei Lovelybooks
Vielen lieben Dank an Bettina und an unsere werten Leser
Eure Clue Writer
Rahel und Sarah